Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Mai.

Die deutsche Heeresmaschine schreitet in Frankreich weiter fort. Soissons ist genommen, Reims bedroht, die Aisne überschritten, und die Armeen schreiten der Marne zu. Die Truppen nähern sich Paris. Jeder klar Denkende sieht in diesem Fortschreiten ein Entfernen vom Frieden. Jeder Kilometer, der errungen wird, bedeutet neue Monate des Krieges. Die offiziellen Generalstabsberichte jubeln, und die Wolff-Kommentare bemühen sich, die militärischen Leistungen herauszustreichen. Es sei zugegeben, dass diese Leistungen in ihrer Art etwas Hervorragendes bedeuten. Sie müssen jeden Heerführer, jeden Regimentskommandanten mit Genugtuung erfüllen. Aber je länger der Krieg dauert, um so mehr vergibt man, dass die militärischen Erfolge nicht Selbstzweck sein können. Der Krieg wird doch nicht für die innere Genugtuung der militärischen Fachleute geführt. Die schönsten militärischen Leistungen sind zwecklos, wenn sie den Frieden nicht herbeiführen. Sie werden aber zum Verbrechen, wenn sie den Frieden direkt hinausschieben. Und das bewirken die Siege im Westen. Da nützt aller Jubel, aller Stolz, alle Hurrastimmung nichts, die zivilisierten Völker der ganzen Erde unterwerfen sich nicht der Gewalt eines deutschen Siegs. Wie der wilde Reiter in Spangenbergs Bild «Die Jagd nach dem Glück», läuft die deutsche Militärmaschine einem Phantom nach, um, durch die Jagd danach verblendet, in den Abgrund zu stürzen. Eine ganze Welt unterwirft sich einem Gewaltfrieden nicht! Und je länger diese Täuschung andauert, um so größer werden die Opfer, um so unerträglicher die Verluste und um so unversöhnlicher der Hass und die Rachegefühle der unter der Wucht der deutschen Erfolge blutenden Gegner. Es wird immer deutlicher, dass nicht das deutsche Volk, dass der deutsche Militärgeist, der Wahnsinn der Alldeutschen, der Raubinstinkt der Schwerindustrie, dass einzelne Schichten, die in der Ergebnislosigkeit dieses opferreichen Kriegs ihr eigenes Ende sehen, um ihre Selbsterhaltung kämpfen auf Kosten des betörten deutschen Volkes. Es ist nicht wahr, dass das deutsche Volk in seiner Existenz bedroht ist. Die Hunderttausende im Westen fallen für Landerwerb, für Geldforderungen, die man heimbringen will, fallen im günstigsten Fall für ein Friedensphantom, wie der sogenannte Ostfriede eines ist, der nur den Namen eines Friedens trägt und nichts anderes ist als ein in andrer Form weitergeführter Krieg.

Ein Lichtstrahl fällt in dieses Dunkel der Zeit. Es ist die Schrift Wilhelm Muehlons, die mir heute zukam. «Die Verheerung Europas» ist sie betitelt; sie umfasst Tagebuchniederschriften aus der Zeit vom Juli bis November 1914. Es sind ganz intime Niederschriften, die ein durch die furchtbaren Ereignisse der Kriegswerdung gequälter Europäer zur eigenen Erleichterung niedergeschrieben hat. Sie waren sicherlich nicht dazu bestimmt, während des Kriegs veröffentlicht zu werden. Muehlon hatte niemals die Absicht, das von ihm verurteilte Getriebe des offiziellen Deutschlands während der Schlachten öffentlich zu brandmarken. Wenn er es nun doch getan hat, so tat er es unter dem Zwang, in den ihn die Herren Helfferich und Krupp durch den Mund des Herrn von Payer gebracht haben, als diese ihn vor aller Welt als 200 einen mit seinen Nerven zerbrochenen Mann hinstellten, um seine Anklage über die Kriegsvorgeschichte zu entkräften. Die jetzt veröffentlichte Schrift zeigt der Welt, dass dieser Muehlon kein zusammengebrochener Mann, sondern ein Recke ist, dessen Kraft in seiner hohen Sittlichkeit liegt.

Die Schrift Muehlons bedeutet eine Niederlage für den Kriegsgeist, die nachhaltiger wirken wird als alle Giftgas-, Feuerwerfer-, Luft- und Unterseesiege. Sie wird eine große Rolle spielen in der Geschichte des deutschen Volkes, das nie an dieser mutigen Tat vorübergehen kann, wenn sie auch jetzt noch so sehr von dem Fluch der Schwertgewaltigen und ihren schreibenden und telegraphierenden Advokaten verfolgt werden sollte. Die Schrift Muehlons ist die Morgenröte eines neuen Deutschlands. Sie lässt die Hoffnung auf das deutsche Volk gerade jetzt aufleben, wo man alle Hoffnung für geschwunden hielt. Gerade deshalb wird das neue Deutschland, das kommen muss, diesem Mann und seiner mutigen Tat einst Dank wissen, Dank auch jenen Armseligen, die ihn gezwungen haben, aus seiner Zurückhaltung hervorzutreten.

Diese Schrift, die den Deutschen die Irrwege ihrer Politik, die Verblendung ihrer Führer, die Krankheit des Volkskörpers so unerbittlich vor Augen hält, ist nicht das Werk eines Verbitterten, eines Unzufriedenen, eines in seinem Ehrgeiz nicht Befriedigten. Muehlon hatte Stellung und Ansehen wie nur wenige im Reich. Es lag eine glänzende Zukunft vor ihm, und er hat alles abgeworfen aus Ekel, aus Entrüstung, aus einem Sittlichkeitsempfinden heraus, das als heilig bezeichnet zu werden verdient. Wenn die Entente über diese Schrift auch jubeln wird, es geht doch aus keiner Zeile, aus keinem Wort hervor, das er sie um ihres Beifalls wegen geschrieben. Um sich selbst zu entlasten, verfasste er diese Aufzeichnungen.

Mögen die Kriegswächter, Kriegsschürer und Kriegsinteressenten im Reich über diesen Mann und über seine Schrift den Bannfluch sprechen, er hat mit ihr dem deutschen Volk mehr gedient als alle militärischen Taten. Denn er hat in der das Deutschtum verachtenden Welt den Glauben an das deutsche Volk wieder erweckt und wird damit den Frieden möglicher machen, als es die Siege Hindenburgs und Ludendorffs können. Ein Volk, das einen solchen Mann hervorbringen kann, der, klar sehend, in der Zeit der tiefsten geistigen Verirrung, alle Taten und Handlungen richtig einzuschätzen vermag, ist kein verlornes Volk. Muehlon steht nidit allein. Nur hat nichtt jeder die Nerven und die Gelegenheit, sein Denken jetzt so zum Ausdruck zu bringen, wie es dieser und einige andere getan haben. Aber unterhalb der militärisch vergitterten Oberfläche, hinter der Grimasse der kriegerisch reglementierten öffentlichen Meinung, stehen Tausende, die innerlich den Tanz um die Schwerkanone nicht mitmachen, und die eines Tages das fieberdurch-rüttelte Volk zu sich selbst und zur Genossenschaft mit den anderen Völkern der Welt führen werden.

Ich habe die kleine Schrift in einem Zug bis zu Ende gelesen. Ich habe wie ein Durstender daran gehangen und die Worte als Erlösung eingesaugt. Jetzt fange ich wieder zu hoffen an. Möge es Tausenden, möge es Millionen vergönnt sein, an diesem Wahrheitstrank zu gesunden.

In dieser Schrift steht es vor uns, dieses furchtbare, dieses zeitwidrige, dieses grauenhafte System des raubgierigen und brutalen Pangermanismus und Militarismus. Nackt steht es da in seiner ganzen Scheußlichkeit und analysiert in seinen intimsten Regungen, in seinem Denken und perversen Fühlen. Aus den zahlreichen, zu Herzen gehenden Äußerungen, die alle wie kräftige Striche das gigantische Porträt zeichnen, nur eine Stelle:

«Macht, materielles Wachsen, Arbeitsgebiete, Disziplin, Methode waren die Worte und der Sinn. Sonst keine Idee, die sie berechtigte, zu herrsdien, keine Wohltat und keine Rücksicht, die sie den Besiegten schuldeten. Kurz, kein Edelmut. Sie wollen sich in das Bett der anderen legen und lassen sich ruhig dafür Barbaren schimpfen. Sie haben nicht den leisesten Ehrgeiz, die anderen moralisch zu gewinnen.»

Einmal denkt er nach, dass es gut wäre, dem führenden Preußen den Sieg über Europa und die Ehre der Gestaltung der künftigen internationalen Beziehungen zu gönnen. Und er malt ein Bild aus, das er selbst als utopisch bezeichnet, um dann resigniert sich zu sagen:

«Es wird alles rauben, was es kann, um es zu behalten. Es wird nur geben, woran ihm nichts liegt, und das nur auf Kosten anderer. Es wird nie seinen Fuß vom Nacken der Besiegten und Überfallenen nehmen. Es wird jede fremde Zivilisation zwingen, seine Barbarei zu verehren. Es glaubt nur an die starke Faust im Innern und nach außen. Es erkennt keine andere Macht auf Erden an, als den Zwang.»

Und an einer anderen Stelle:

«Wir haben keine Achtung vor den Verträgen gezeigt, wir können keine andere Gesinnung als die von uns selbst bekundete von anderen Völkern gegen uns erwarten. Aber wir werden mit unserem Standpunkt nicht durchdringen. Es gibt ein moralisches Element in der Entwicklung der Mensch heil, das wird uns besiegen, je mehr wir es verletzen.»

Die Presse! Welche Erlösung liegt in dem Fluch, den Muehlon am 25. September 1914 gegen den Kriegswahn der deutschen Presse richtet:

«Man muss ihrem Inhalt an vielen Stellen ausweichen , wie man schmutzigen Pfützen ausweicht. Auf einige Blätter werfe ich nur noch einen flüchtigen Blick des Abscheues, wie jemand, der sich täglich überzeugt, dass ein ekelhaftes Reptil, das er nicht töten kann, sich noch am selben Ort befindet. Ja, die Presse ist wirklich einstimmig, wie sie sich rühmt. Möge niemals das deutsche Volk beschuldigt werden, was die Welt in diesen Zeiten zu hören bekam, sei die freie Sprache des Volkes durch sein eigEnes Sprachrohr gewesen ... Nie wird sich die deutsche Presse von der Schmach erholen können, die sie in diesem Krieg auf sich geladen hat. Wir müssen uns nach dem Krieg eine neue Presse anschaffen, die jetzige ist ein schmählicher Aussatz.»

Wenn man liest, was Muehlon über die Vergewaltigungen in Belgien, in Polen, in Elsaß-Lothringen sagt, so fühlt man, dass die deutsche Menschheit noch nicht rettungslos verloren ist im Treitschketum und Bernhardismus. In diesem Mann erhebt sich der neue Geist gegen jene Sünder am Deutschtum. Von Muehlon geht die Rückwirkung aus, aus dieser kleinen Schrift sprießt die Gesundung.

Und was für ein Mensch! Er kann seit der Mobilisierung nicht mehr im Automobil sitzen. «Ich kann nicht mehr im Wagen durch das Volk fahren, das jetzt die furchtbare Arbeit des Kriegs zu leisten haben wird.» Die Reservistentrupps, die mit ihren Habseligkeiten, von Gendarmen geleitet, zur Bahn ziehen, stimmen ihn traurig. «Ich kann den Leuten nicht in die Augen sehen, wie wenn ich an einem Verbrechen an ihnen Mitschuld hätte.»

Ob er nicht mitziehen solle in den Krieg, erwägt er:

«Ob ich nicht freiwillig das Schicksal unserer Soldatenmasse teilen soll, ohne Rücksicht auf meinen persönlichen Standpunkt, lediglich aus dem natürlichen Trieb, mit und bei denen zu sein, die kämpfen und leiden müssen. Aber der Auftakt in Belgien hat die Gefühle im Keime erstickt. Nicht einmal gezwungen ginge ich mit. Wofür habe ich Überzeugungen, wenn ich ihnen nicht treu bliebe und für sie eintrete.»

Und so wie er sich vom Krieg loslöst, weil er einen Rechtsbruch zur Voraussetzung hat, löst er sich von seiner Stellung los. Er beschließt, «bei mir selbst anzufangen, und mich von meiner Stellung, von meiner täglichen Arbeit, von der ich mich längst und bisher vergeblich befreien wollte, mit einem scharfen Schnitt loszutrennen».

Und das tut er auch.

Erschütternd ist die Eintragung vom 1. September 1914:

«Für mich ist es ein wahres Unglück, in meinem Denken, in den wichtigsten und geringfügigsten Punkten so abzuweichen von meinen Landsleuten. Ich bin ein Fremder innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen.»

Nein! Dieses Empfinden ist das einzig Fälsche in jener Schrift. Muehlon mag ein Fremder gewesen sein in seiner damaligen Umgebung. Er ist kein Fremder im deutschen Volke. Er wird verstanden. Von Tausenden. Er wird von Millionen verstanden werden. Das kranke deutsche Volk erwacht! Es wird genesen. Genesen an der hohen Sittlichkeit, die Männer wie dieser Krupp-Direktor ihm zur Labung reichen!