Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. März.

Also Tirpitz hat seinen Posten geräumt. Es wird zwar mit allem Nachdruck betont, dass der Kurs der alte bleiben und sich an der Schärfe des Unterseebootkriegs nicht ein Jota ändern werde, dennoch bedeutet dieser Wechsel eine Änderung. Sonst wäre es nicht erklärlich, warum dieser Mann, der die deutsche Flotte geschaffen, seit 19 Jahren an ihrer Spitze steht, plötzlich mitten im kritischsten Augenblick des Weltkriegs seine Stelle verlassen soll. Mit seinem Abgang hat das System der kriegerischen Ultras ein Leck erhalten, sind die Vernünftigen gestärkt worden. Der Abgang Tirpitz bringt uns dem Frieden näher. —

Wenn mit Tirpitz einer jener Männer verschwindet, die am 23. Juli 1914 im Amt waren, so kehrt mit Berchtold einer von ihnen zurück. Zwar nicht in verantwortlicher, aber immerhin in die einflussreiche Stellung eines Obersthofmeisters des künftigen Herrschers der Habsburgischen Doppelmonarchie. Über diesen Berchtold redivivus ist die offiziöse Wiener Presse ausser sich vor Freude. Sie begrüsste, nach einem Telegramm des Korr.-Bureaus, das Wiedererscheinen des Mannes, der den ersten Anstoss zum Weltkrieg wenigstens verantwortlich zeichnete, mit wärmster Sympathie und grösster Genugtuung ... «Denn», so meldet das Telegramm, «Graf Berchtold, der in böser, erregter, stürmischer Zeit mit aufopferungsvoller Tätigkeit die auswärtige Politik der Monarchie leitete und sodann seine Dienste dem Vaterlande an der Front im weltbewegenden Krieg widmete, trete nun wieder in eine Stellung, die seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten und seinen unvergesslichen Leistungen entspreche».

Bis auf die «unvergesslichen Leistungen» wird man dem Lobgesang der Wiener Presse kaum zustimmen können. Unvergesslich ja, das werden sie sein. Das Weh von Millionen Zeitgenossen und von Reihen von Generationen, die uns folgen werden, wird mit dem Namen dieses Ministers zusammenhängen. Wie sollte man ihn je vergessen?

Hier erhebt sich wieder die alte Streitfrage, ob es die Menschen sind, die die Schuld am Weh der Menschheit tragen, oder die Einrichtungen. Ist ein Berchtold für das, was er in seinem neuen Amt wirken kann, im vollen Umfang verantwortlich, oder trägt die Hauptschuld das System, das es möglich macht, ja sogar bedingt, dass auf den verantwortungsvollen Posten gerade die am wenigsten Fähigen gestellt werden, auf den gefährlichsten Stellen die Unvorsichtigsten, auf den schwierigsten die Naivsten, auf Stellen, die harte Charaktere erfordern, die Schwächlichsten und Nachgiebigsten? Ich kann mich nicht entschliessen, die Menschen allein für das Böse ihrer Handlungen verantwortlich zu machen, solange die Verhältnisse einen so massgebenden Einfluss auf sie ausüben. Es ist der Boden, der den Verbrecher schafft, der Gesellschaftszustand, der den Kriegsmacher bedingt.

Vom «Kriegsmacher» zum «Friedensmacher» ist nur ein Schritt. Wie jene, die die Kriegsmacher allein für ihre Handlungen verantwortlich machen wollen, irren jene, die den Frieden ohne Rücksicht auf die gebieterischen Verhältnisse hoffen durchsetzen zu können. Es sind diejenigen, die da meinen durch die Hervorhebung des sichtbar Äusserlichen den Frieden herstellen zu können. Gestern z.B. drang Herr Daetwyler, der eine sogenannte «Friedens-Armee» begründet hat, in den Schweizer Nationalrat ein, stellte sich in die Mitte des Saales, bezeichnete sich als «auch ein Vertreter des Volkes» und wollte eine Friedensrede halten, bis er, von zwei Amtsdienern geführt, aus dem Saal gewiesen wurde. Ein Vorgang, der Aufsehen machen wird in der Welt, und in der Geschichte der Parlamentsattentate seine Stelle einnehmen wird. Wäre dieser Daetwyler aus anderm Holz geschnitzt, als er zu sein scheint, wer weiss, ob diese Szene nicht einst Malern und Illustratoren zum Vorwurf dienen würde als die Tat eines neuen Winkelried, der dem Volke eine Gasse hauen wollte. Aber Herr Daetwyler ist ein Mann, der den Krieg durch Zeitungsinserate bekämpft, und dem es möglicherweise darum zu tun war, nunmehr die Zeitungen zur Aufnahme eines unbezahlten Inserates zu zwingen. Dass er der Sache durch solche Handlungen dient, wird niemand, dem diese Sache am Herzen liegt, zugeben. Der Kampf für den Weltfrieden erfordert mehr psychische Hemmungen, als solcher Leute Schulweisheit sich träumen lässt.

Auch Broda, der soeben sehr ins Einzelne gehende «Grundlinien eines dereinstigen Ausgleichfriedens» («Menschheit» 15.—22. März) entwirft, besitzt diese Hemmungen nicht in genügender Stärke. Auch er will den Frieden «machen» ohne Rücksicht auf die Verhältnisse zu nehmen, die die Menschen bestimmen.

Er entwirft einen jener, jetzt so zahlreichen, manchesmal ganz «verflucht gescheiten» Pläne, durch die unter möglichster Schonung eines jeden kriegführenden Landes eine Verschiebung von Ländern und Menschen, ein möglichst gerechter Ausgleich bewirkt werden soll, der den Krieg beendigt und den Frieden der Zukunft sichert. Diese Friedensentwürfe haben eine erschreckende Ähnlichkeit mit den in den Jahren vor dem Krieg so zahlreich erschienenen Kriegsromanen, die uns alle zeigten, wie der europäische Friede nur an einem Haar hing, und wie einmal über Nacht der Brand aus einem geringfügigen Umstand zum Ausbruch kommen könne. Nun kam der Krieg ganz anders als ihn jene Romane kommen liessen. So wird auch der Friede anders kommen; aber die Menschen, die heute so auf den Frieden hoffen, wie sie damals den Krieg fürchteten, lesen jetzt diese Friedens-«Romane» mit dem selben Heisshunger und der selben Gespanntheit wie ehedem die Kriegsromane.

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