Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

21. August 1914.

Heute vor zwei Monaten schloss Bertha von Suttner ihre Augen für immer. — Wenn sie nur eine Ahnung davon gehabt hätte, wie zeitgemäss sie starb. Es wäre eine Genugtuung für uns Hinterbliebene. Aber auch so müssen wir zufrieden sein, dass sie diese Enttäuschung nicht erlebt hat. Enttäuschung? — Sie gehörte nicht zu den Optimisten, die den Zukunftskrieg für unmöglich hielten. Sie fürchtete ihn und sprach mir oft ihre Befürchtung aus, dass ich, der ich gerade in dem Umstande, dass jeder Krieg in Europa zum Weltkrieg führen müsse, eine Bürgschaft gegen den Kriegsausbruch sah, mich täuschen könnte.

Nun ist sie zwei Monate tot, und wie unglaublich hat sich seitdem die Welt gewandelt! Sie scheint vergessen ! Aber es scheint nur so. In diesem Augenblick ist ja alles vergessen und nebensächlich, was sonst tiefsten Eindruck gemacht hat. Der Papst ist gestern gestorben. Ich erinnere mich des Papst-Todes von 1903. Welcher Zeitungslärm durch Wochen hindurch. Jetzt eine kurze Depesche, ein kurzer Artikel. Heute eine andere Depesche von acht Worten aus New-York unterm 16. August: «Gestern wurde die Eröffnung des Panamakanals feierlich begangen». Weiter nichts. Eines der grössten Kulturwerke aller Zeiten vollendet, und die Menschheit dieses unglücklichen Europas hat nicht Zeit, sich dessen zu freuen. Aber es wird schon kommen! Der Normalzustand wird ja doch einmal wieder einkehren. Und dann wird auch die Zeit Bertha Suttners kommen. Man wird sich ihrer erinnern, man wird anfangen, ihre Arbeit zu begreifen, ihre Schriften zu verstehen. Vor allen Dingen wird man ihre Kassandrarufe erfassen, die in ihren «Randglossen zur Zeitgeschichte» niedergelegt sind. Gerade jetzt während dieser Sturmzeit des Krieges habe ich mich der Arbeit unterzogen, um mich zu betäuben und meine Kräfte auf ein gutes Werk für die Zukunft zu konzentrieren, diese «Randglossen» vom Jahre 1892—1914 für die Herausgabe zu sammeln und für den Druck vorzubereiten. Das soll das Denkmal werden, das ich ihr errichte und das ihre Persönlichkeit den Zeitgenossen vermitteln soll.

Die Deutschen sind gestern in Brüssel eingezogen.

Was mich bei dieser Nachricht bewegt, ist Hoffnung und Trauer.

Hoffnung, weil dieses rasche und energische Fortschreiten der deutschen Armee den Gedanken erweckt, es könnte der Krieg dadurch zu einem raschen Ende kommen.

Trauer, weil ich dieses Brüssel kenne, seine vornehme alte Kultur liebe und die hohe, ernste Friedensarbeit der Belgier, die ihr Land reich gemacht und der Menschheit solche unschätzbare Dienste geleistet hat, zu würdigen weiss. Ich weiss, was gerade dieses Volk unter dem Kriege leiden muss, den es, bei Gott, nicht gewollt hat.

Der Hass, der heute gegen die Belgier in Deutschland und Österreich wegen der Misshandlung der Fremden verbreitet ist, ist begreiflich. Aber die Nachricht, dass die belgische sozialdemokratische Partei den Schutz der Fremden gegen die Pöbelherrschaft in die Hand genommen hat, dringt nicht so sehr in die Massen wie die breiten Erzählungen über die Misshandlung der Reisenden.

Der Papst soll aus Gram über den Krieg gestorben sein. Wie die «Tribuna» berichtet, habe der Papst vor seinem Hinscheiden geäussert, dass er gern sein armes Leben hingeben würde, um den Tod einer so grossen Anzahl von jungen Leuten im Krieg zu verhüten. Das «Neue Wiener Tageblatt» bringt dazu noch folgende Depesche:

«Rom, 19. August. Eine vatikanische Persönlichkeit, die den Papst jüngst gesehen hat, erklärte dem «Giornale d’ltalia», der Schmerz, der dem Papst durch den Krieg bereitet worden sei, sei nicht die letzte Ursache seiner Krankheit. Der Papst habe gesagt, ehemals hätte der Papst den Krieg verhindern können. Wieviel Priester und Seminaristen, die sich gestern noch als Kollegen in Rom befanden, hätten abreisen müssen, um als Feinde in die Armee einzutreten. Sein Herz als Papst und Katholik zittere darüber. Bei diesen Worten hatte der Papst Tränen in den Augen.

Rom, 20. August. Die «Tribuna» schreibt: Der Papst ist ein Opfer des Krieges. In den letzten Tagen hat er selbst zahllose Depeschen diktiert, um die Schrecken eines europäischen Krieges zu verhindern. Dieser hat ihm den Todesstoss gegeben, indem er die letzte Kraft brach, die ihm verblieben war».

Aus dem heute veröffentlichten Depeschenwechsel zwischen dem Prinzen Heinrich und dem deutschen Kaiser auf der einen, dem König von England auf der andern Seite geht wieder hervor, wie geringfügige Momente für das Glück von Millionen massgebend sind. In der Depesche Kaiser Wilhelms an König Georg, worin ersterer die notwendig erfolgte Mobilisierung der deutschen Armee mitteilt, steht der zum Denken Anlass gebende Satz: «Gegenbefehl kann nicht mehr gegeben werden, weil Dein Telegramm zu spät kam». Also ein um einige Minuten verspätetes Telegramm gab dem Verhängnis seinen Lauf. Das ist also der durch die Rüstungen «gesicherte» Frieden. Ist das nicht das berühmte Gleichgewicht bei dem Bau eines Hauses, das so auf das feinste ausgeklügelt war, dass es zusammenstürzen musste, als ein Spatz sich auf die eine Seite des Daches setzte. Es rächt sich die Achtlosigkeit, die man unserer stetigen Forderung entgegenbrachte, dass man zur Sicherung des Friedens nicht nur den Krieg, sondern auch den Frieden rüste. Wir legten unser Schwergewicht immer darauf, Einrichtungen zu schaffen, die einem entstehenden Konflikt «dilatorische Behandlung» sichern. Wir wiesen zu diesem Zwecke auf die durch die Haager Konvention geschaffenen Untersuchungskommissionen hin, auf die Notwendigkeit eines Ausbaus der «guten Dienste» und der «Vermittlung». Lauter Einrichtungen, die bezwecken, Zeit zu gewinnen, und die gesunde Vernunft von den Erregungen des Augenblicks freizuhalten.

Freilich, wenn das Rüstungswesen derart zugespitzt ist, dass eine Stunde Versäumnis einen unwiedereinbringlichen Nachteil hervorruft, dann steht dieses Friedenssicherungsmittel in diametralem Gegensatz zu dem andern. Dem Grundsatz, Zeit zu gewinnen, stellt sich gebieterisch der andere entgegen «keine Zeit verlieren», dann muss es aber passieren, dass eine um einige Minuten zu spät gekommene Depesche die Kultur des Erdteils um ein Jahrhundert zurückwerfen kann. Das ist aber der Bankrott der Friedenssicherung durch die Rüstungen. Vernunft wird Unsinn, jene Sicherung die Gefahr. Was wir übrigens immer — leider vergeblich — in die Welt riefen.

Einen frohen Zukunftsblick gewährt mir der Artikel des Prof. v. Liszt in der «Hilfe» vom 13. August, die mir erst heute zukam. Der Artikel heisst «Der Krieg und die Zukunft des Völkerrechts». Liszt erhofft aus diesem Kriege eine neue Organisation des Staatenverbandes, der die Bahn frei machen wird, «für einen Kulturfortschritt, der alles in der Vergangenheit gewesene weit hinter sich lassen wird». Auch ich neige dieser Ansicht zu. Der der Menschheit innewohnende Aufwärtstrieb hat sich in der Vergangenheit durch alle die Schrecken der Menschheitsgeschichte nicht ertöten lassen, er wird auch durch die jetzige Katastrophe nicht vernichtet werden. Es muss ein Fortschritt aus diesem Gemetzel erwachsen. Vielleicht führt es zu einer Einheit Europas, zu einer gewaltsam herbeigeführten höheren Organisation, zu einer Erleichterung des Rüstungspanzers.

Über den «entscheidenden» Sieg, den die Österreicher am 14. und 15. über die Serben errungen haben, wie amtlich mitgeteilt wurde, ist bis heute nichts Näheres bekannt gegeben worden. Sonderbar.