Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Juni.

Ein Kalmückenhäuptling als Kronzeuge für die Unschuld Deutschlands am Weltkrieg wird von der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» der Welt vorgestellt. Es ist dies ein Oberst Fürst Tundutow, Helmann der Kalmücken und der Astrachaner Kosaken, «der sich auf der Durchreise einige Tage in Berlin aufhielt». Durchreise? Leben wir denn wieder im Zeitalter des Verkehrs, wo russische Fürsten und Oberste nur so durch Berlin «durchreisen»? Dieser Kalmückenhetmann stand vor Ausbruch des Krieges bei der russischen Garde und lat Dienste beim Generalslabschef Januschkewitsch. In dieser Eigenschaft hörte der Fürst jenes berühmte Telephongespräch in der Nacht vom 29. zum 30. Juli 1914, in dem der Zar den General Januschkewitsch beauftragte, die Mobilisierung rückgängig zu machen. Der General log damals den Zaren an. Er sagte ihm, die Mobilmachung wäre nicht mehr rückgängig zu machen, da sie bereits ungeordnet sei. In Wirklichkeit soll der General die Mobilmachung erst nach dem Gespräch mit dem Zaren ausgegeben haben. Ob diese Angaben mit den bisher bekannten Daten übereinstimmen vermag ich nicht zu prüfen. Das hat auch keinen Zweck, denn der jetzt durch Berlin «durchreisende» russische Oberst ist unmöglich ein verlässlicher Zeuge. Von Bedeutung ist nur, dass man in Berlin noch immer krampfhaft nach Zeugen für die Unschuld Deutschlands am Weltkrieg sucht, dabei aber nie mit dem 23. Juli und den vorhergehenden Tagen beginnt, sondern mitten drin, am 29. Juli, als die Katastrophe schon im Gang war, Erklärungen und Beweise zu finden sucht. Dass ein russischer Generalstabschef kein Förderer des Friedens sein mochte, sei im voraus gern geglaubt. Ich finde es nur selbstverständlich, dass solch ein Mann sich die günstigste Gelegenheit nicht gern entschlüpfen lässt. Januschkewitsch war am 29. Juli 1914 nicht schlechter als Tirpitz am 12. Februar 1912, wo es sich darum handelte mit dem in Berlin anwesenden Lord Haldane zu einem Abkommen über die Flottenrüstungen zu gelangen. Es handelt sich für jeden Forscher nach der Schuld an diesem Verbrechen nur darum, wer einem kriegslüsternen Generalstabschef die Möglichkeit in die Hand gespielt hat, zu Gunsten einer kriegerischen Entscheidung zu wirken, und wer, als durch diesen Kriegsbegeisterten die russische Mobilisierung Tatsache wurde, sich in Verkennung der Folgen solcher Handlung, fortreiBen lies, darauf mit dem Krieg zu antworten, statt alle Mittel zu versuchen, das zum Krieg führende Manöver des russischen Generals doch noch zu durchkreuzen. Diese Schuld ist von den deutschen Machthabern nicht fortzunehmen, und auch ein durchreisender Kalmückenhetmann wird durch seine Enthüllungen daran nichts ändern.