Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 24. Dezember.

Nach vierwöchiger Krankheit außer Bett. Die Ereignisse, hinter dem Schleier des Fiebers gesehen und erlebt, treten in greifbarer Erscheinung . Viel hat sich ereignet. Ich werde darauf zurückkommen. In den Vordergrund tritt jedoch die Tatsache der begonnenen Friedensverhandlungen im Osten.

Friedensverhandlungen! Wie ersehnten wir dieses Ereignis durch vierzig bange Monate hindurch! Nun ist es Tatsache, nun ist es Wirklichkeit; da steht der erträumte grüne Tisch und die ersten Würdenträger der Staaten haben sich daran versammelt und reden vom Frieden, vom Frieden, vom Ende des Kriegs, von Kultur und Wirtschaft, von Freundschaft und Achtung. Da haben sie einen Waffenstillstand geschlossen, von der Ostsee bis zum schwarzen Meer. Kein Schutz wird mehr getan. Nicht mehr wird «abgeschossen», «mit Bomben belegt», «gesäubert», «in den Grund gebohrt», und wie die schönen technischen Audrücke für die, «Krieg» genannte, Handlung der Menschenvertilgung alle heißen mögen. Da haben sie einen Waffenstillstandsartikel II: «Es wird verbrüdert.» Je 25 Mann, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an der in der Landkarte eingezeichneten Stelle. «Es wird verbrüdert!» Die Menschenliebe im Exerzierreglement! Es wird gehasst! Es wird verachtet!

Es wird ersäuft, erstickt, in die Luft gesprengt! — Achtung: Verbrüderung!

Sehnen erscheint nicht gestillt, unser Hoffen nicht erfüllt.


Die vierte Kriegsweihnacht! Was wir die Jahre hindurch ersehnt, hier hätten wir es. Und dennoch: man wird diese Ereignisse nicht froh. Unser Sehnen erscheint nicht gestillt, unser Hoffen nicht erfüllt.

Kann aus diesen Friedensverhandlungen jener Friede erstehen, den wir als den Abschluss dieses Weltenmords uns vorgestellt haben, jener Friede, der nicht nur diesem Krieg, sondern dem Krieg überhaupt ein Ende macht? Kann uns dieser Friede der Zentralmächte mit dem Osten allein, die Weltorganisation, die Gesellschaft der Nationen, den Weltrechtszustand geben? Nein! Dort in Brest-Litowsk wird der Versuch gemacht, einen Krieg zu beendigen, ein Versuch ganz mit den alten Mitteln, ganz nach der alten Schablone, nie und nimmer kann dort einseitig, ohne die Kulturstaaten des Westens, der Menschheitsfrieden errichtet werden, der den Sinn, das Ziel und die tiefste Ursache dieses Kriegs bilden.

Dort in Brest-Litowsk kann nur ein Friede gemacht werden, der sich wie alle Friedenschlüsse der Vergangenheit gegen jemanden richtet, ein Kampffrieden, ein Rüste- und Fristefrieden, ein Sieger- und Besiegtenfrieden, kein allgemeiner, kein ordnender, kein dem Krieg den Garaus machender Friede. Der Friede dort soll den Zweck haben, die Kampf- und Siegesfähigkeit der Zentralmächte zu heben, und so die Hoffnung auf einen allein Rettung verheißenden Weltausgleich und auf die ersehnte Weltverständigung immer weiter hinauszuschieben, am Ende gar zu vernichten.

In welchen Formen spielt sich dieser Friedenskongress ab! Als ob sich nichts ereignet hätte auf Erden! Nichts sichtbar von den Träumen von Demokratie, von einer demokratischen Diplomatie, die unter steter Kontrolle der Völker steht. Nichts davon, als ob wir nichts erlebt hätten, alles noch in den Riten von Wien und Versailles und London und Berlin. Der Reichskanzler hat sich mit den Fraktionsführern unterhalten — vier Stunden lang. Dann ging man auseinander. In Wien hat man gar das Anerbieten der Volksvertretung, an den Friedensverhandlungen mitzuwirken, dankend abgelehnt. Hingegen Informationen vom Hauptquartier. Der Monarch überträgt sein Friedensschließungsrecht dem Kanzler. Die Diplomaten reisen zum Frieden wie einst. Volksvertreter, Friedenstechniker, davon keine Rede. Aber reichlich ist die Vertretung des Armeeoberkommandos. Und sind es nicht dieselben Diplomaten, die zu Beginn des Kriegs da standen? Nicht die Personen, aber die Träger des gleichen Systems. Soll so das neue Brot uns werden aus den Händen und aus den Backöfen der alten Bäcker?

Darum werden wir dieser Friedensarbeit nicht froh. Sie verheißt uns nichts, sie ist eine Aktion des Kriegs und der Krieger, ein strategisches Mittel mehr, weiter nichts. Sie deutet uns weitern, erbitterteren, verlängerten Krieg!

Und rein technisch genommen erscheint diese Friedenskonferenz als ein Unding. Es stehen sich zwei entgegengesetzte Welten gegenüber, die sich niemals verstehen können. Da die Vertreter der militärischen Autokratie, hier die Revolutionäre rötester Färbung, die radikalsten Umwälzer, die die Erde je trug. Zwei vertragschließende Parteien, deren jede die andere als die frevelhaftesten Verräter an der Menschheit betrachtet, und deren jede die andere, wollte sie sich im eignen Staat erheben, ohne Zaudern hängen lassen würde.

Und hieraus soll Verständigung uns erstehen?

Und unter solchen Umständen soll unsere Friedenssehnsucht gestillt sein?

Aus Brest-Litowsk wird die Ankunft des Grafen Czernin gemeldet. Und dann heißt es (Telegramm des Wiener Korr.-Bureau vom 22. Dezember.):

«Die erste Begegnung mit den russischen Bevollmächtigen fand beim Abendessen statt und trug einen überaus freundschaftlichen Charakter.»

«Überaus freundschaftlichen Charakter!»

Die Herren begrüßen sich. Die Meute wurde zurückgepeitscht und zur Ruhe verhalten. Das Bauchaufschlitzen der Völker wurde eingestellt, der Eisenhagel auf warme Menschleiber unterbrochen, wie Kulturgeschöpfe sitzt man gemeinsam beim Abendbrot und begrüßt sich «überaus freundschaftlich».

Herrliches Gastmahl! Man stößt wohl mit den Gläsern an, man konversiert über Jagd, Theater, Völkersitten, erzählt sich Anekdoten, macht formvollendete Verbeugungen, raucht in Klubstühlen ganz wie sonst in den Zeiten der vom Militarismus noch gestatteten Kultur. Ich denke an die in den masurischen Sümpfen Erstickten, — Prosit! Herr Nachbar! — an die Leichenberge bei Przemysl, wo die Minenfelder aufgeflogen waren, und Zehntausende warme Menschenleiber in zuckende Kadaver verwandelten, — Prosit, Herr Nachbar! Eine Zigarre gefällig? — denke an die nackt aufgestapelten zehntausend Typhusleichen unserer, in Sibirien gefangener Landsleute, die man am Typhus verrecken und dann auf der kalten sibirischen Erde erfrieren ließ. Prosit! Augenzwinkern. «Überaus freundschaftlich.» Herr Nachbar, bitte um das Menü.

Mütter! Mütter! — Mütter, Frauen, Kinder der Gemordeten! Freut euch an dem Gastmahl von Brest-Litowsk. Die Diplomaten schäkern wieder!

Vierzig Monate Eisenhagel! Vierzig Monate Versenken, Ersäufen, glücklich mit Bomben belegen, vierzig Monate Vernichtung, und General Ludendorff sagt zu den Redakteuren der Zentrumspresse, die ihn im Hauptquartier besuchten, man soll doch nicht so viel vom Frieden reden. Ja, wo leben wir denn eigentlich, was ist aus der Menschheit geworden, dass man ihr zu sagen wagt, sie solle nicht so viel vom Frieden reden? — Reden? Nein, brüllen, brüllen mit Stiergewalt, schreien, schreien, dass die Augen aus ihren Höhlen treten, Herr General, brüllen und schreien von Frieden sollen wir, denn dieser Alkoholzustand des Sieges, dieses lebendige Verfaulen am Krieg mag für Feldherrn Gipfelpunkt des Daseins sein, für die übrige Menschheit ist es der menschenunwürdigste Zustand. Wir wollen vom Frieden reden, nur vom Frieden, immer vom Frieden. Der Satz Ludendorffs lautet «Reden wir nicht zuviel vom Frieden. Nur der Sieg führt zu ihm.» Genau wie Lloyd George es sagte, gegen den man in Deutschland Kritik wagt «Es gibt keinen Mittelweg zwischen Sieg und Niederlage.» Militärischer Wahn hier wie dort. Es gibt keinen Frieden durch Sieg! Der mit Stiefelabsätzen zusammengetretene Friede der Militärs ist der Säbelfriede, der Wachtparadenfriede für Bankeilreden, der im Juli 1914 die Welt erstickte. Daher, Herr General, reden wir nur vom Frieden, sonst kommen wir durch lauter Siege nicht zu ihm.