Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

8. August 1914.

Dieser Vorschlag wird natürlich von meinen Bekannten für undurchführbar erklärt. «Chimäre». Natürlich ist er undurchführbar. Nicht weil er dumm ist, sondern weil die Menschen dumm sind. Ein Staatsmann, der die Macht hätte und die Einsicht, könnte ihn durchführen. Dann würde man ihn als «genial» bezeichnen und seine Realpolitik rühmen.

Ist denn nicht dieses Elsass-Lothringen allein schuld an dem gegenwärtigen Weltbrand? Ohne diese offene Wunde am Körper Europas wären Frankreich und England nicht an der Seite Russlands, hätte dieses keinen Einfluss auf die Geschicke Europas. Wir haben es ja immer gesagt: ln der Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich liegt der Schlüssel zur Einigung Europas.

Jetzt muss Deutschland diese 14,000 km2 neu erobern. Muss es unter erschwerenden Umständen: gegen Frankreich, England, Russland zugleich. Unter unsäglichen Opfern und unter der Drohung zu unterliegen. Lohnt sich dieses Risiko? Wie der Soldat im Gefecht sein Gepäck abwirft, so sollte Deutschland jetzt diese 14,000 km2 abwerfen, damit sich und Europa retten. Alles würde dann die eine Front nach Osten nehmen. Aber freilich, unsere «Realpolitiker», die uns als Idealisten verlachen, stehen derart unter dem Bann der Sentimentalität, dass an eine solche vernünftige Lösung nicht zu denken ist.

Gestern wurde das neue deutsche Botschaftsgebäude in Petersburg zerstört. Unzeitgemässes Gewinnspiel in der Wiener Presse über solche Barbarei. Wenn es bei der Zerstörung dieses Palastes bliebe! Was hat nicht dieser Krieg schon alles an idealen Werten vernichtet. Den stolzen Aufbau des Völkerrechts z. B., den wir in den letzten 20 Jahren errichtet, die wundervolle Verständigungsarbeit zwischen Deutschland und England, Deutschland und Frankreich. Wer weint darum?

Doch glaube ich nicht, dass die Bewegung durch diesen Weltbrand totzumachen sein wird. Sie wird vielleicht einige Zeit stagnieren. Aber die natürliche Entwicklung wird sie neu beleben. Dass es Weltzusammenhänge gibt, erweist ja gerade dieser Krieg durch die plötzliche Stockung der Wirtschaft, durch das Mitgerissenwerden aller Staaten in einen so lokal aussehenden Konflikt. Das Bild der aneinander geseilten Touristen zeigt sich. Das muss die Psyche beeinflussen. Und darauf kommt es an. Denn die Suche nach Mitteln zur Streitschlichtung erweist sich als lächerlich, wie ich es immer ausgeführt habe. Jeder Streit kann friedlich geschlichtet werden. Der Wille dazu muss vorhanden sein, und dieser Wille kann nur erzeugt werden durch eine völlige Umwandlung der Psyche. Solche Umwandlungen werden jedoch erzeugt durch den Einfluss der Tatsachen. Die Tatsache des aneinandergeseilten Europas wird ihre erzieherische Wirkung bekunden. Wie ich immer schrieb: «Die Logik der Dinge ist unsere Rettung.» Auf die Logik der Menschen ist kein Verlass. Mein pazifistisches System ist das richtige.

Gestern hat nun auch Montenegro der Monarchie den Krieg erklärt. Die sechste Kriegserklärung in acht Tagen. Man wird abgestumpft. Aber «ne bis idem». Es ist alles ein Ereignis. Es ist der Weltkrieg; auch der Krieg jener Staaten, die nicht direkt erklärt haben. Wenn sie auch nicht schiessen, sie sind alle ausserhalb der Ordnung und leiden unter der gestörten zwischenstaatlichen Organisation. Ich sagte so oft unter Anlehnung den Vers der Ebner-Eschenbach: «Oh, sag nicht fremder Krieg, ein Krieg ist niemals fremd.»

Erzherzog Ludwig Salvator, der mir erst vor einigen Tagen einen Trostbrief schrieb und seine Niedergeschlagenheit über die Ereignisse zum Ausdruck brachte, regt in einem neuerlichen vom 4. aus San Rocco bei Triest datierten Schreiben eine Adresse an Sir Edward Grey an. Von den Ereignissen überholt. England ist jetzt «Feind». England, das Land Steads, Avebury’s, Weardales, Moscheies’, Darbys und so vieler prachtvoller Menschen. Der Briefverkehr ist überhaupt unerträglich. Früher war Wien von B. 13 Stunden entfernt. Jetzt ist es soweit wie früher Amerika von Wien. Auch Carl Hauptmann schreibt mir: «Das Verhängnis ist nun über uns gekommen». Gutes über die Suttner. Ich kann mich noch immer nicht dazu haben, Briefe an meine Freunde zu schreiben. Mir fehlt die Ruhe zu allem.