Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Mai.

Warum sollen wir auch nicht stolz sein, wenn wir z B. folgendes lesen;

«Die österreichische Staatsschulden-Kontrollkommission veröffentlicht die Nachweisung über den Stand der Staatsschulden bis Ende 1915, woraus zu entnehmen ist, wieviel sich der Staat in den ersten elf Monaten des Kriegs ausgeborgt hat. Es sind rund 9,5 Milliarden. Davon sind 4,88 Milliarden die zwei ersten Kriegsanleihen, 4,6 Milliarden sind Vorschüsse. Bei der österreichisch-ungarischen bank beträgt der Vorschuss 3,5 Milliarden; die Deckung sind Schatzscheine und Wechsel. 600 Millionen betrogt der Vorschuss bei dem Bankenkonsortium, 446,8 Millionen betragen die zwei Valutaanleihen in Deutschland. Das jährliche Zinsenerfordernis für diese Schulden wird in der Nachweisung mit 377 Millionen Kronen berechnet. Zu diesen Kriegsschulden von 9 1/2 Milliarden kommen die alten Staatsschulden mit rund 13 Milliarden, so dass die österreichische Staatsschuld Ende Juni 1915 rund 22 1/2 Milliarden Kronen beträgt, wofür etwa 890 Millionen Kronen jährlich an Zinsen zu bezahlen sind».

Da ist die dritte und vierte Kriegsanleihe noch nicht dabei. Also noch acht Milliarden zumindest. Aber: wir wären doch auf keine Konferenz gegangen.

L. macht mir Vorwürfe über meinen «unbegreiflichen» Optimismus, den er in einem meiner letzten Artikel in der N.Z.Z. findet. Hätte man den Optimismus nicht, wozu dann überhaupt noch eine Feder rühren? Im übrigen glaube ich für meinen Optimismus Gründe zu haben. Es muss ein «anderes Europa» kommen, das alte ist tot, es sieht nur so aus, als ob es noch lebe. — Mir scheint jetzt Optimismus Pflicht.

Und die Umwandlung der Ideen in Deutschland! Auch darüber machen sich die Aussenstehenden, die Deutschland nur nach den Zeitungen beurteilen, keinen Begriff. Als Beispiel ein Erlebnis, das gestern einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat:

In der «Welt am Montag» vom 22. Mai 1916 ein Artikel Helmut v. Gerlachs «Dauerhafter Friede» betitelt. Darin folgende Stelle:

«Der Haager Gedanke scheint mir der grösste des 20. Jahrhunderts. Dass er versagt hat, als es sich darum handelte, diesen Weltkrieg zu verhüten, spricht nicht gegen ihn. Die schmerzensvolle Praxis dieses Krieges war viel-leicht nötig, um die Theorien vom Haag in die Wirklichkeit umzusetzen, um sie als kostbares Kulturgut in den Herzen aller Völker zu verankern».

Und ich schlage nach in der «Friedens-Warte» nach einem Artikel, den ich einst gegen H. v. Gerlach gerichtet habe, (F.-W. II. Jahrg. 1900) als er das Haager Werk angriff. Damals schrieb Helmut von Gerlach in der «Welt am Montag» von Ende Juli 1900 Folgendes:

«Es konnte für den unbefangenen Zuschauer gar nichts Lächerlicheres geben als die kostpsielige Haager ,Friedenskonferenz', deren einjähriges Jubiläum wir ja in einigen Tagen feiern werden. Mir kommt diese Konferenz immer vor, wie eine der rührsamen Rittersücke des Direktors Lumpe, der einst Berlin entzückte. Die Akteure mimten ernsthaft ihre heizerweichenden Rollen, oder stellten sich wenigstens so, als glaubten sie an das, was sie sagten. Ein paar ganz naive Zuschauer — Frau v. Suttner, Herr v. Bloch und fünf oder sechs andere — wurden ehrlich gerührt. Die überwältigende Masse des Publikums aber schwor darauf, etwas so Komisches habe sie überhaupt noch nicht erlebt, wie dies Schauspiel, das gerade deshalb so überwältigend wirke, weil die ernsthaften Formen einen so lächerlichen Kern einhüllten».

Das war 1900. Damals, als wir, eine Hand voll Pazifisten, die einzigen waren, die die Bedeutung des Haager Werkes erkannten und uns der «überwältigenden Masse des Publikums» entgegengestellten. In meiner damaligen Erwiderung an Gerlach finden sich folgende Sätze:

«Trotz dieser Fortsetzung der Witze und Witzeleien über die Haager Konferenz wird das von ihr geschaffene Werk in Kraft treten. Die Regierungen ratifizieren es quand même, und über den Wert dieses Werkes wird die nächste Zukunft Herrn v. Gerlach und seine Anhänger belehren ... Wir glauben daran, dass Europa, wenigstens ein grosser Teil Europas, erkennen wird, dass in der Zusammenarbeit die Macht liegt. Wir hegen zwar nicht den geringsten Zweifel, dass diese Erkenntnis erst kommen wird, nachdem Ströme Blutes das Exempel dafür statuiert haben werden. Die Ungeschicklichkeit Europas in gemeinsamen Manipulationen ist noch kein Beweis, dass diese Manipulationen unnötig sind. Alles will gelernt werden, auch die Kunst, nationale Interessen durch internationale Eintracht zu wahren».

Und da soll man nicht Optimist sein?