Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. Januar.

Der berühmte Artikel «Friedensgedanken» in der «Neuen Zürcher Zeitung» hat im selben Blatt (21. Januar) «von einer Seite her, die mit dem Gedankenkreise der Entente ziemlich vertraut ist» eine Erwiderung erhalten. Meiner Vermutung nach ist N. der Verfasser. Jedenfalls sind die darin enthaltenen Äusserungen auch die seinen. Eine Stelle daraus lautet:

«Der künftige Friede muss ein dauerhafter Friede sein, der sich nicht auf der Macht des Stärkeren, sondern auf der Achtung vor dem Recht, vor Sitte und Humanität aufbaut. Für dieses Ziel glauben heute die Alliierten zu kämpfen und bevor es erreicht ist, kann von Friedensverhandlungen keine Rede sein. Dieses Ziel wird erst dann erreicht sein, wenn die Ursache des jetzigen Kriegs, das militärische System mit seinem Rüstungsunwesen durch diesen Krieg gründlich ad absurdum geführt sein wird. Wenn die Welt erst einmal erkannt haben wird, dass man selbst mit einem Heer, das so mustergültig organisiert ist wie das deutsche, einen wirklichen Sieg über den Gegner nicht erfechten kann, dann wird dieses System durch sich selbst gerichtet dastehen. Und dann wird man auch den moralischen Faktoren wieder die Beachtung schenken, die sie verdienen. So lange diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, hat es also keinen Zweck, von Friedensverhandlungen zu reden.»

Dass es keinen Zweck hätte, über Friedensverhandlungen zu sprechen, sehe ich nicht ein. Zumal es nicht notwendig ist, dass die erwähnten Voraussetzungen auch wirklich erfüllt sein müssen. Es genügt, wenn sie ins Auge gefasst werden können. Es ist nicht notwendig, dass das gegenwärtige zwischenstaatliche System wie es in dem herrschenden Rüstungsunwesen zum Ausdruck kommt, erst «gründlich ad absurdum geführt werden muss.» Man kann bereits heute erkennen, dass es jeden Kredit verloren hat.

Unzweifelhaft war es dieses System, das den Krieg herbeiführte, indem es durch die fortwährende wechselseitige Überbietung an Rüstungen jenen Zustand der Reizbarkeit gezeitigt hat, der im Falle eines äusserlich geringfügigen Konflikts den Vernunftmassnahmen keinen Spielraum mehr liess. Ein System, dessen unter Aufwand ungeheurer Kraft errichtete Schutzmassnahmen so empfindlich wurden, dass es Fristüberschreitungen von 48 oder gar nur zwölf Stunden als unwiderbringliche Nachteile erachten musste, ist bereits ad absurdum geführt. Das Schlagwort von den, den Frieden sichernden Rüstungen, das »si vis pacem para bellum», ist seit achtzehn Monaten überwunden.

Dieses System ist aber heute auch deshalb gerichtet, weil es mit den von ihm angewandten Mitteln trotz grosser technischer Erfolge im Verlauf von achtzehn Monaten eine Entscheidung nicht herbeizuführen vermochte. Die Hoffnung, die beide Teile auf die künftige Entwicklung der Dinge setzen, kann den Misserfolg des Systems nicht aus der Welt schaffen. Von einem wirklichen Erfolg kann nämlich nur dann geredet werden, wenn das Spiel den Einsatz lohnt. Und das ist bei den Wirkungen des modernen Chemiekriegs nicht mehr der Fall, sobald sich die Aktionen in die Länge ziehen. Es kann durch keine noch so grosse Steigerung der technischen Erfindungen auf irgend einer Seite der Kämpfenden etwas erreicht werden, das im Verhältnis zu den Lasten und Opfern als wirklicher Erfolg gebucht werden könnte. Die einzige Befriedigung, die durch eine Fortführung des Kampfs mit den untauglich gewordenen Mitteln des modernen Kriegs noch zu erreichen ist, wäre moralischer Art. Ein rein militär-fachliches Vergnügen nach dem Muster der l’art pour l’art. Es ist zweifelhaft, ob eine so teuer erkaufte ideelle Genugtuung für irgend ein Volk von Nutzen sein kann.

Ich sehe daher nicht ein, dass der Krieg unbedingt weiter geführt werden müsse, um die Untauglichkeit des bisherigen Systems der zwischenstaatlichen Beziehungen zu erhärten. Wenn man ernstlich will, kann dieser Beweis heute schon erbracht werden. Darum heisst es, auf beiden Seiten die Erkenntnis für die Situation zu erwecken. Der Wille wird darin schon kommen. Und das beste Mittel zur Erweckung dieser Erkenntnis erscheint mir das Reden über Friedensverhandlungen. Überhaupt das Reden! Denn mit dem Schiessen allein kommt man nicht weiter.

Durch das Reden über die Möglichkeiten des Friedensschlusses kann man dahin gelangen, das schwerste Friedenshindernis zu überwinden, nämlich den notwendig umnebelten und erbitterten Geisteszustand der im Krieg befindlichen Völker allmählich zu klären und diese für Vernunfterwägungen zugänglich zu machen. Das Misstrauen, das heute zwischen den Kämpfern herrscht, ist begreiflich. Aber solange es überwiegt, kann an eine Beendigung des Kriegs ehe der letzte Jüngling Europas unter der Erde liegt, ehe die letzte Kulturgrundlage verschüttet, die letzte Münze unserer Urenkel verausgabt ist, nicht gedacht werden. Man muss es zu erschüttern suchen. Und man erschüttert es nur, indem man immer und immer wieder dagegen anrennt.

Die kriegführenden Staaten haben natürlich das Vertrauen zueinander verloren. Eine Regierung glaubt der andern nicht. Die Zentralmächte glauben nicht daran, dass die Entente den künftigen Frieden auf der Achtung vor dem Recht aufbauen will. Sie erblicken darin nur einen auf Blendung der Neutralen berechneten Vorwand. Die Entente erblickt wiederum in den Friedenszielen der Zentralmächte den Willen zur Vorherrschaft und den Anfang der Unterjochung aller andern. Indem nun beide Mächtegruppen, von ihrem Misstrauen geleitet, für die Fortsetzung des Kriegs eintreten, geben ihm beide einen erneuten Präventivcharakter. Der Krieg gilt für jeden der Kriegführenden als Mittel der Vorbeugung für die dem Gegner zugeschriebene Absicht.

Man muss aber über die von der Kriegspsyche verwirrte Logik der Kriegführenden hinauskommen. Man muss über das berechtigte Misstrauen zur Logik der Menschen die Hoffnung auf die Logik der Dinge setzen. Dann bieten sich einem Aussichten und Erkenntnisse von so zwingender Gewalt, dass ein Abschluss des Kriegs in kurzer Frist nicht ausgeschlossen erscheint, wenn es gelingt, nur einigen führenden Personen in Europa diese Erkenntnis beizubringen.

Von dem Waffenergebnis dieses Kriegs erwarte ich für keine der kriegführenden Parteien etwas Grosses. Das wahrhaft Grosse erwarte ich jedoch von der Rückwirkung des Kriegs auf die künftige Gestaltung des Lebens der europäischen Völker. Man soll doch nicht glauben, dass die Wirkung eines derartigen Ereignisses an dem Tag aufhören wird, an dem man mit Tinte und Papier sein Ende dekretiert. Die Radiumwirkung solcher Erscheinungen macht sich durch Jahrhunderte geltend, sie muss überdies so umgestaltend, so umwälzend auf das Denken der Zeitgenossen einwirken, in der Folge derart ihr Handeln beeinflussen, dass wir uns einem ganz neuen Abschnitt der Menschheitsentwicklung gegenüber befinden werden. Die Reformation und die Revolution, die Entdeckung Amerikas und der Buchdruckerkunst haben nicht im entferntesten jene Umwandlungen vollzogen, die die Rückwirkung dieses Ereignisses ausüben wird. Wenn die Menschheit erst dazu gelangt, den Schaden zu besehen, der angerichtet wurde, wenn sie erst die Rechnung präsentiert erhalten wird, die auf das Konto der Volkswirtschaft, der Menschenökonomie, der Biologie, der allgemeinen Moral und Kultur aufgelaufen ist, wenn sie erst von der Psychose des Kampfs, von den Hemmungen der Zensur, von der Pflicht zur unbedingten Gutgesinntheit befreit sein wird, und die Hände — soweit sie ihr geblieben — wieder für andere Instrumente denn jene, die dem Mord und der Zerstörung dienen, wird verwenden können, dann wird eine Umwertung der Werte, eine Umwälzung der Ideen, eine Neueinschätzung der Institutionen, ein Beseitigen, ein Errichten, ein Sichern sich vollziehen, das binnen kurzem Welt und Menschheit in einem gegen früher vollständig veränderten Zustand zeigen wird. Die Friedensängste, die sich heute breit und wichtig machen, und um derentwillen man bereit ist, neue Millionen kostbaren Lebens zu opfern, weitere Vernichtungen zu unternehmen, werden, von dem Sockel des neu erwachten, neu geformten Geistes aus gesehen, lächerlich kleinlich erscheinen. Die Welt wird ja erst dann beginnen, sich zu formen, die Menschheit erst dann, sich zu finden, bis der epileptische Krampf, der heute Europa erschüttert, überwunden sein wird.

Die Wirkung der Ereignisse wird gar nichts, die Rückwirkung alles sein. Und mit diesem Faktum muss gerechnet werden, wenn man daran geht, die Zukunft zu zimmern. Es gibt eine Heterogenität der menschlichen Handlungen. Immer ein Anderes, von den Menschen nicht Beabsichtigtes, entspringt ihrem Tun. Auch aus ihren Fehlern und Missetaten. Es wird ein Anderes aus dieser Katastrophe kommen. Deshalb soll man sich nicht einreden, man müsse erst diese oder jene Erscheinung oder Einrichtung überwinden, und glauben, dieser vorgefassten Idee noch weitere Opfer bringen zu müssen. Man stelle dabei die umwälzende Kraft der Ereignisse selbst in Rechnung, die Befreiung und Ordnung bringen wird, wenn es den Verirrten erst gelingt, den Lauf des Unheils abzuschneiden.