Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Januar.

Anderthalb Jahre! Die Fristen gehen immer mehr in die Länge. Zusammenfassende Betrachtungen hat man zu Anfang nach einigen Wochen, nach drei Monaten aufgestellt. Dann kam der Tag des ersten Halbjahrs, und man wunderte sich, dass der Krieg noch immer andauerte. Und dann der Abschluss des zweiten Halbjahrs. Man war entsetzt. Jetzt haben wir das dritte Halbjahr erreicht. Man ist nicht mehr erstaunt, kaum noch entsetzt. Man fängt an, sich in das Unvermeidliche zu fügen und in den Gedanken sich hineinzuleben, dass man überhaupt erst jetzt am Anfang stünde. Das Papier hat das Gefühl erstickt. So lang hat man die öffentliche Meinung für die Erfassung des Unfassbaren dressiert, dass sie den Ausnahmezustand für die Norm zu nehmen befähigt wurde, sowie sie vorher den Zustand des latenten Kriegs mit seinem Wahnwitz des Wettrüstens als etwas Normales hinnahm. Das ist aber doch nur eine Täuschung. In Wirklichkeit hat man die öffentliche Meinung nicht gewandelt — man hat sie beseitigt. Wir haben gar keine öffentliche Meinung mehr. Der Krieg konnte sich in seiner unerträglichen Schreckhaftigkeit nur vollziehen, wenn man jenes Ventil verrammelte. Und um diese Massnahme nicht erkennbar zu machen, hat man ein äusserlich ähnliches Ventil aus Pappe errichtet, das man als öffentliche Meinung bezeichnet. Kriegslist, wie der künstlich nachgemachte vierte Mast der «Emden». Die Verdichtung der Einzelempfindungen und Einzelgedanken zu einer potenzierten Gesamterscheinung wurde unmöglich gemacht. Millionen Impulse, die, konzentriert und gebunden, eine ungeheure, unbezähmbare Macht bilden würden, wurden zum Einzeldasein verurteilt und damit zur Ohnmacht. Die militärische Organisation ist — und dies in allen Ländern — die vollkommenste, die es gibt. Sie, die nur mit der Masse zu wirken vermag und sich souverän über das Individuum hinwegsetzt, das für sie gar nicht vorhanden ist, sie versteht es gleichzeitig, die Konzentrationskraft der Ideen und Gefühle bei den Völkern lahm zu legen und die Massenerscheinung der öffentlichen Meinung in ihre Atome aufzulösen. Aber es ist doch nur befristete Wirkung. Für einen bestimmten Zweck befristet. Das Leid, die Empörung, die Entschlossenheit zur künftigen Vermeidung, all dies lebt und wird in der Isolierung fettgemästet. All dies ist da und wächst, ist Kraft, die nicht verloren geht, die eines Tages ihre Verbindungen wieder finden und mit ungeahnter Wucht ihr Recht fordern wird. Dies irae!

Auf diesen natürlichen Vorgang der Wiederherstellung der öffentlichen Meinung setze ich meine Hoffnung für die Zukunft. Sie erscheint mir wichtiger als Garantie der Dauer und Festigkeit des künftigen Friedens als die mächtigsten Grenzgebirge, Grenzfestungen oder Pufferstaaten.

Darum erscheint es mir als das Wichtigste, nicht den Krieg ausbrennen zu lassen wie einen Benzintank, der nun einmal Feuer gefangen hat, sondern ihn sobald wie möglich zu ersticken, damit die lebendigen Kräfte der Vernunft wieder zur Aktion gelangen können. Unter ihrem Einfluss wird sich das Schicksal eines neuen Europas gestalten. Die Rückwirkung des Kriegs wird das Grosse vollbringen, niemals der Krieg selbst.

Und einstweilen leiden die Millionen weiter; jeder Einzelne für sich, nichts ahnend von dem andern, unbewusst des Umfangs und der Tiefe dieses allgemeinen Leids.

So las ich gestern eine Schilderung von der Flucht des Serbenvolkes. Nur ein paar Zeilen daraus:

«Hinter der Stadt erhebt sich ein Hügel, hinter den es zu flüchten galt. Eine einzige Strasse führte darüber, auf der nun der grauenvolle Zug des Entsetzens selbst und des unfasslichsten Elends prozessierte. Handkarren, Wagen, Pferde, Menschen, ächzten unter Kleidern, Kissen, Decken, Haushaltungsgegenständen, Provisionen. Flugapparate überstrichen diesen Kreuzgang und ihre Bomben rissen das Kind von der Mutter, die Mutter vom Kind, liessen die Pferde zusammenbrechen, die Wagen zersplittern. Was fiel, musste weggeräumt werden, um dem endlosen Zug das Weitergehen zu gestatten, wurde in den Kot, den Schlamm der ehemaligen Wiesen und Äcker geworfen. Krepierte Pferde streckten längs des Weges ihre Beine zum Himmel, müde Menschen blieben liegen, und bisweilen überholte uns ein Zug verwundeter, erschöpfter Soldaten, der Hauch des Todes blies uns an, schaute uns ins Gesicht».

Wer vermag sich das Grauenhafte nur vorzustellen. Aber die vom Papier erstickte «öffentliche Meinung» sagt: Recht geschieht ihnen, den Fürstenmördern. So reden geputzte Damen in eleganten Teesalons, geschniegelte Herrchen in der Eisenbahn. So presst sich aus den Hirnen jenes chemische Unratprodukt, das durch die grosse Retorte der Zensur erzeugt wird. Volta hat die Schenkel eines toten Frosches zum Zucken gebracht, die Zensoren bringen die Hirnmembrane von Zeitgenossen derart in Schwingung, dass sie arme Bauernweiber und neugeborene Kinder an dem Mord von Sarajewo schuldig erkennen.

Anderthalb Jahre!

Und was haben sie vollbracht! Wie ärmlich nimmt sich das Menschenwirken von anderthalb Jahrtausenden dagegen aus. Es ist

doch

eine «grosse Zeit». Eine Menschheitsperiode, die in wenigen Monaten aus den alten Kulturstätten dieser Erde einen Schindanger zu bereiten vermochte, ist zumindest nicht als «klein» zu bezeichnen.