Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. März.

Statt des Endes eine Erweiterung des Kriegs.; Deutschland erklärt Portugal den Krieg. Die wievielte Kriegserklärung? Ich weiss es nicht mehr. Vom militärischen Gesichtspunkt ist wohl durch diesen neuen Kriegszustand nicht viel verändert. Diesen Krieg werden nur die in Feindesland ansässigen Bürger des andern Landes an Leib und Eigentum zu spüren bekommen.

Die Schlacht bei Verdun, die seit dem 21. Februar wütet, wird von beiden Seiten mit einem Kräfteaufwand betrieben, als gelte es wirklich eine Entscheidung. Die blutigste Schlacht der Geschichte dürfte sie heute schon sein, ob sie aber eine Entscheidung bringen wird, erscheint mir fraglich.

Die Nachrichten über die Lebensverhältnisse in Deutschland und Österreich klingen betrübend und beängstigend. T. schreibt auf offener Postkarte, dass es unmöglich ist, kräftigende Nahrungsmittel zu beschaffen, um einen Kranken zu stärken. H. schreibt aus Wien, alle Leute seien hungrig. Andere erzählen, es fehle nicht nur an Mehl, sondern auch an Mais. Die Hungersnot scheint wirklich schon da zu sein. Ob das etwas an dem Krieg ändern wird? Wenn man es als Notwendigkeit und als etwas Ehrenvolles darzustellen weiss, sich für das Vaterland in Stücke zerreissen zu lassen, wird man es auch als etwas Hohes und Erhabenes darstellen, für das Vaterland zu verhungern. Man wird das Volk ruhig verhungern lassen, und wird sich damit begnügen, die Schuld auf die Engländer zu wälzen. In Wahrheit wollen ja diese nicht, dass das Volk verhungere, sie wollen vielmehr den Frieden dadurch erzwingen, indem sie annehmen, dass man eben das Volk vor dem Verhungern wird schützen müssen. Aber darin täuschen sich die Engländer. Das Volk ist den Kriegführenden kein so gewichtiger Faktor, als dass man so zarte Rücksichten auf es nehmen würde. Wäre dies der Fall, so würde man überhaupt keinen führen.

Was dieser Krieg für Hölle, für unausdenkbare Entsetzlichkeit ist, deutet wieder einmal ein Kriegsbericht an, der im «Bund» (9. März) erschienen ist. Dr. Paul Niehans berichtet von der Tiroler Front:

«Die ersten Strahlen der Sonne röten die Spitzen der Berge. Die Artillerie hat wieder zu trommeln begonnen. Plötzlich bricht das Feuer ab und wird auf die Reserven verlegt, das Zeichen zum Sturm. Voraus gehen Pioniere mit Handgranaten, dahinter Infanterie.

,Avanti Savoya’ heult es betäubend aus tausend Kehlen. Die erste Schützenlinie der Italiener wälzt sich heran, in grossen Sprüngen, vorwärts, atemlos. Im Morgenleuchten funkeln Bajonette. Noch fällt kein Schuss, und diese Feuerdisziplin der Tiroler ist niederdrückend, macht auch den kühnsten Gegner zittern. Er stürmt heran auf 400, auf 300 Meter. Hunderte Rohre sieht er aus dem Boden starren. Mündung an Mündung bleibt auf ihn geheftet und doch kein Schuss. Er fühlt sich wie gelähmt, von unsichtbarer Hand zurückgehalten. Sein Atem stockt. Es schlägt das Sturmgeheul der zweiten Schützenlinie an sein Ohr und treibt ihn vorwärts. Da krachts mit einem mal aus hundert Scharten, Maschinengewehre rattern, und die Läufe sprühn und mähen die erste Schützenlinie nieder. Schon steht die zweite bei den Leichen; es taucht die dritte und schon die vierte feindwärts bei den Gräben auf.

Immer dichter werden die Sturmkolonnen, immer näher arbeiten sie sich heran. Sie schleudern Handgranaten, und grosse Ekrasitkugeln rollen in die Gräben. Da und dort wird in die Stellung eingebrochen. Bajonett und Kolben tun ihre Arbeit, mit dem Messer wird gekämpft und Leib an Leib gerungen.

Immer neue Feinde tauchen auf, immer dichter, Mann an Mann. Wie Ameisen wimmeln die Reserven, in langen Linien wogen sie heran, jede schiebt sich durch die andere und reisst, was mutlos, mit sich fort. Vorwärts, unaufhaltsam vorwärts, bis die Flut am Grabenrand zerschellt, aber schon ist eine neue Woge an den Leichen.

Die erste Stellung ist überrannt. Im Lärm vernimmt man knappe Kommandorufe. Menschen zerfleischen sich wie wilde Bestien. Wimmern und Klagen mischen sich immer lauter in das Wutgeheul. Dumpf stöhnen schwere Geschütze über die Kämpfer hinweg. Da und dort erlahmt die Kraft, sind ganze Kompagnien aufgerieben, die Hindernisse bedeckt mit Leichen, durch Stacheldraht zerfleischt. Im Graben ist kein Raum, im Handgemenge wird gemetzelt, der Gegner an die Grabenwand gepresst, ihm die Gurgel zugeschnürt, das Messer in den Leib gebohrt. Schwer fällt er nieder.

In rasendem Nahkampf wälzt sich wie vom Sturm gepeitscht die Woge hin und her. Die zweite Grabenkette ist bezwungen, wird neu erkämpft, geht abermals verloren. Da brechen die Reserven zum Gegenangriff vor. Unter der Wucht des Kolbens bricht der Schädel, und über Menschenleiber hinweg wird mit verbissener Wut der hartnäckige Gegner aus den verwüsteten Stellungen herausgeworfen.

Die Schlacht tobt unentschieden. Stunden vergehen beim harten Ringen, bis der Italiener erlahmt. Er kann nicht halten, was er schwer erkämpft. Da und dort geht einer zurück. Der Tiroler heftet sich an seine Ferse. Bald weichen Gruppen und bald Abteilungen, und einmal die Rückwärtsbewegung in der Masse, ist diese bei Tag unrettbar verloren.

Die Linien reissen sich vom Feind los. Der Artilleriebeobachter in der Schützenlinie hat’s gemeldet und schon prasselt ein schwerer Hagel aller Kaliber auf die Flüchtenden herab, reisst Lücken in die Reihen, bringt Verwirrung in die Verbände. Hat der Sturm Hunderte von Menschen gekostet, der Rückzug kostet mehr». — —

Und all diese qualvoll hingestreckten Opfer sind Söhne, Väter, Ehegatten, haben diesen Krieg nie gewollt, wurden nie um ihren Willen befragt, wurden von der Arbeit, von der Liebe, von reicher Zukunft weggerissen, um dann als Zahl unter den gebliebenen Opfern eines taktischen und dennoch ergebnislosen Vorstosses zu figurieren. Sie wurden geboren, um diesen Morgenvorstoss auszuführen, sie sterben dafür. Und sie hatten glauben können, sie seien auf die Welt gekommen, um die Fortschritte der Zeit zu geniessen, sich an Natur und Kunst zu erfreuen, zu schaffen und Werte zu erzeugen. Narren! Die Weltgeschichte brauchte sie, um eine Frontlinie zu korrigieren.

Und ihr noch grössern Narren, ihr Verbrecher, die ihr der betörten Menschheit einreden wollt, dieser Riesensport für Auserwählte wäre ein Naturgesetz, ein unvermeidbares Schicksal. Es sind Menschenhände, die die Menschenhände in Bewegung setzen. Es sind kalt lächelnde Diplomaten in Klubstühlen, die die Kolben auf die krachenden Schädel niedersausen lassen, und die im Sommer 1914 spröde taten, mit sich nicht reden lassen wollten über die Möglichkeit der Vermeidung dieses Krieges und es mit ihrem «Prestige» nicht vereinbar fanden, den Konflikt einer Vernunftlösung zuzuführen.

Das Verbrechen, das sie begingen, indem sie es zum Krieg kommen liessen, ist so ungeheuer gross, dass selbst die ärgste dafür ausdenkbare Sühne zu lächerlich gering erscheint. Die Menschheit darf aber ihre Sinne nicht durch Rachegefühle schwächen. Mit der ganzen Wucht der ihr noch verbliebenen Lebenskraft wird sie sich auf die einzige, ihr nach diesem Krieg zukommende Aufgabe zu konzentrieren haben, alle Möglichkeiten zur Wiederholung dieses schändlichen Verbrechens zu verrammeln.

Von den Personen wird sie nur Eines fordern müssen. Entschieden und mit dem klammernden Nachdruck krampfhaft gerungener Hände fordern: Fort mit ihnen! Ob schuldig oder unschuldig: kein Einziger von den führenden Personen, dessen Name mit diesem Kulturverrat irgendwie verbunden ist, der, gezwungen oder freiwillig, als Pflichtmensch oder als Verbrecher — einerlei — damit etwas zu tun gehabt hat, soll in seinem Amt bleiben. Jeder, der das Unglück hatte, vom 23. Juli 1914 bis zum Beginn der Friedensverhandlungen in irgendeinem Land an der Spitze der Geschäfte zu stehen, soll von der Gesichtsfläche der Zeit verschwinden. Die verkrüppelte Menschheit soll mit neuen, durch keinen Schimmer dieses Verbrechens belasteten Menschen an die Neuordnung ihrer zertrümmerten Welt gehen, und kein Menschenname, der irgendwie in diese Grauenzeit hineinleuchtete, soll ihr pietätvolles Gedenken an Toten, an Menschen- und an Arbeitsruinen stören. Ausgelöscht sollen sie sein! Die Schuldigen als verfluchte, die Unschuldigen als bedauerte Mitopfer!