Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 17. Juli.

Die «Frankfurter Zeitung» widmet meiner Schrift «Europäische Wiederherstellung» einen Leitartikel (Abendausgabe, 12. Juli). Eine zustimmende Behandlung konnte unter den gegenwärtigen Zensurverhältnissen nicht erwartet werden. Das Blatt hätte wohl die Broschüre totschweigen können. Wenn es dies nicht tut, sondern sie in der Breite eines Leitartikels sanft ablehnt, so nehme ich dies als den wohlwollenden Versuch, den heutigen Schwierigkeiten zum Trotz eine weite Öffentlichkeit auf mein Buch hinzuweisen. Es ist ja selbstverständlich, dass das Blatt auf die Kernpunkte meiner Broschüre nicht eingehen konnte. Es konnte nichts schreiben über meine Darlegung der Ursachen dieses Kriegs, über die Anarchie im Staatenverkehr, die latente Entwicklung der Katastrophe, über die Irrlehre des Imperialismus, über den Wert der internationalen Verträge, über die Unvernunft des Wettrüstens und über meine Ideen betreffend die künftige Gestaltung eines Dauerfriedens. Was ich über die Diplomatie und die Presse, über den Prestige-Wahn und die Allianzenpolitik schrieb, entzieht sich in Deutschland während des Kriegs der öffentlichen Erörterung, ebenso wie meine Darlegungen über den Hass. Hingegen nimmt das Blatt zwei Punkte aus meinem Buch heraus! Einen Satz über die Rüstungen: «Wie wird man künftig die Milliardenausgaben für die Rüstungen zu rechtfertigen suchen, wenn einmal der Beweis erbracht ist, dass alles Rüsten den furchtbarsten aller Kriege nicht nur nicht zu verhindern vermochte, sondern direkt hervorgerufen hat?» Das Blatt meint, das sei «eine irreale Betrachtungsweise». Wenn die Staaten sich auch sagten, dass sie mit ihren Rüstungen dem Frieden dienen wollten, so handle sich das doch um Politik, «bei der man nicht jedes Wort glaubt». «So bekommt das Rüstungsproblem erst sein wirkliches Gesicht». Ich bin ganz dieser Ansicht. Dies bekräftigt aber nur meine Behauptung, dass das Friedensmittel der Rüstungen, das «Si vis pacem, para bellum» schmählich bankrott gemacht hat. Nun fügt die «Frankfurter Zeitung» Folgendes hinzu: «Von Deutschland und seinen Verbündeten darf man ehrlich behaupten, dass sie gern beim Frieden geblieben wären, wenn man sie nur in Ruhe gelassen hätte, aber Frankreich rüstet seit vierzig Jahren den Krieg, und was ihm an Entschlusskraft fehlte, das hatte Russland, unterstützt von England, das die Konjunktur zu nutzen gedachte. Nicht die Rüstung ist schliesslich der Schuldige, sondern der Wille zum Krieg, der die Rüstungen hervorrief, dort zum Angriff, hier zur Verteidigung gegen ihn».

Das hier im letzten Satz ausgedrückte sage auch ich, wenn ich ausführlich nachweise, dass es die internationale Anarchie ist, die den Rüstungswettbewerb gezeitigt hat, und dass dieser Krieg nur die logische Folge jenes «Friedens» ist, den wir besassen. Aber dass das Problem nicht so einfach ist, wie es in dem vorhergehenden Satz ausgedrückt erscheint, wird die vor-augustische «Frankfurter Zeitung» der Kriegs-Frankfurter am besten darlegen. Ich verstehe jedoch diesen Wandel der Anschauungen und beuge mich schweigend bis zu dem Augenblick, wo man über diese Dinge auch anders wird reden können.

Der zweite Punkt ist die Hervorhebung meines Hinweises auf das Vorbild der pan-amerikanischen Union, das ich in Form eines europäischen Verbandes an Stelle des Zwei- und Dreibundes zu setzen vorschlage. Es ist keine, auch keine durch die Zeitverhältnisse bedingte ernste Kritik, wenn die Frankfurter schreibt, dass ich «beschlossen» habe, den Rüstungswettbewerb und den Willen zum Krieg durch den Hinweis auf jene pan-amerikanische Union «künftig unschädlich zu machen». Man belehrt mich, dass dieses amerikanische Vorbild nicht auf europäische Verhältnisse übertragbar sei, weil hier die Verhältnisse anders lägen. Man gibt zu, dass ich selbst sage, dass der von mir empfohlene Zweckverband das amerikanische Muster nicht sklavisch zu befolgen brauche, lässt aber den Satz weg, «da die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten reger sind als die zwischen den amerikanischen Republiken, die Scholle kleiner, auf der sie sich zusammenfinden, die Interessen verwickelter und die Konfliktmöglichkeiten daher häufiger ...» Man übergeht auch, dass ich nicht die noch geringen politischen Ergebnisse jener Union für Europa als das am meisten Wünschenswerte betrachte, sondern deren psychischen Einfluss, der allerdings geeignet erscheint, den «Willen zum Krieg», den heute alle Staaten dieses Erdteils dem andern vorwerfen, durch die im Zweckverband organisierte soziale Arbeit zu überwinden. Man hat vor allen Dingen jenen Satz meiner Darlegung nicht hervorgehoben, wo ich sage: «Bei dieser gemeinsamen Arbeit im Dienste der praktischen Lebenserfordernisse könnte sich Europa auch politisch finden. Denn trotz der Unabhängigkeit, die den daran (an den Zweckverband Europa) beteiligten Staaten gewahrt bliebe — oder gerade in deren Folge — würde der «Zweckverband Europa» auf die politische Gestaltung des Erdteils nicht ohne Einfluss bleiben». Man hat auch übersehen, dass ich die pan-amerikanische Union gerade deshalb zum Vorbild empfehle, weil der pazifistische Diletantismus stets die «Vereinigten Staaten» als nachahmenswertes Beispiel für Europa empfehlen.

Meinen Vorschlag zur Konsolidierung dieses «Zweckverband Europa», den ich in seinen Bestandteilen als bereits vorhanden nachweise, findet die «Frankfurter Zeitung» derart, dass es ihr schwer fällt, ernsthaft zu bleiben. Sie meint jedoch anschliessend, dass es der Pazifismus doch dahin bringen könnte, «etwas dazu beizutragen, dass der Gemütszustand der Völker mit der Zeit etwas besser würde». Als ob mein Vorschlag etwas andres bezweckte.

Ich hoffe, dass die Zeit bald kommen wird, wo es in deutschen Blättern möglich sein wird, die Aufmerksamkeit auf die ehrliche Arbeit für das grösste Problem dieser zerschundenen Menschheit anders zu erzwecken, als durch eine solche captatio benevolentiae für die Zensur und der von ihr geschützten Kreise.