Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. Mai.

Es sind nun heute zwei Monate her, dass die große Offensive im Westen begonnen hat. Sie hat das Versprochene und Erwartete bisher nicht erreicht; aufgegeben ist das Ziel natürlich noch nicht. Mit atemloser Spannung blickt die Menschheit betrübt auf den vorbereiteten neuen Ansturm der deutschen Heere, auf den neuen Blutstrom, der sich durch das verwüstete Land wälzen und der den Frieden ebensowenig näherbringen wird wie die vorhergegangenen opferreichen Anstürme. Zwei Monate ist eine lange Zeit.

Mittlerweile sind auch die Wirtschaftsverträge bekannt geworden, die Rumänien auferlegt wurden. In der N. Z. Z. meinte gestern ein Rumäne, noch niemals wären einem Staat so drückende Bedingungen auferlegt worden wie Rumänien in jenem Bukarester Frieden.

Wenn man nun diesen ganzen Ostfrieden übersieht, von Finnland bis nach Rumänien, diese Bedingungen, diese offenen und versteckten Annexionen, kriegerischen Aktionen und gewaltsamen Entwicklungen, die sich daraus ergeben oder noch ergeben müssen, so muss man sich mit Erstaunen fragen, wie ist das alles vereinbar mit jenen pazifistischen Erklärungen, die die Mittelmächte mit allem Nachdruck einst so entschlossen in die Welt geschmettert haben. Die Welt vergisst zu schnell. Die Antwort der Mittelmächte auf die Papstnote ist noch kein Jahr alt. Und was hörten wir da:

«Mit der Kraft tiefwurzelnder Überzeugung begrüßen wir den leitenden Gedanken Eurer Heiligkeit, dass die künftige Weltordnung unter Ausschaltung der Waffen auf der moralischen Weltmacht des Rechtes, auf der Herrschaft der internationalen Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit ruhen müsste. Auch sind wir von der Hoffnung durchdrungen, dass eine Hebung des Rechtsbewusstseins die Menschheit sittlich regenerieren würde.»

(Österr.-ung. Antwort auf die Papstnote.)

«Mit besonderer Sympathie begrüßt die kaiserliche Regierung den führenden Gedanken des Friedensrufs, womit sich Seine Heiligkeit in klarer Weise zu der Überzeugung bekennt, dass künftig an die Stelle der materiellen Macht der Waffen die moraliche Macht des Rechtes treten muss. Auch wir sind davon durchdrungen, dass der kranke Körper der menschlichen Gesellschaft nur durch eine Stärkung der sittlichen Macht gesund werden kann.»

(Deutsche Antwort auf die Papstnote.)

Nun also wird die moralische Macht des Rechts gefestigt und errichtet in Finnland und im Baltikum, in Polen, in der Ukraine und in der Krim, in Rumänien und wahrscheinlich auch in Böhmen, Slavonien, Kroatien und Bosnien.

Wohin steuern wir am Ende dieses vierten Kriegsjahres, in welches Chaos sind wir geraten? Wann und wie werden wir daraus den Ausweg finden?