Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Dezember.

Die Friedenshoffnungen, die durch den Artikel der «Neuen Zürcher Zeitung» angefacht wurden, erweisen sich als eitel. Die Vorschläge werden von Freund und Feind abgelehnt. Die Gehirne sind zu umnebelt, als dass sie zu erkennen vermöchten, dass es sich zunächst gar nicht um die Friedensbedingungen, sondern nur vorerst um den Beginn der Erörterungen handelt. Die Werkzeuge der Vernunft soll man nur erst in Anwendung bringen. Das ist die Hauptsache.

Hingegen: England, das ob seiner Freiheiten so stolze England, führt die allgemeine Wehrpflicht ein. Das ist ein Rückschritt der Kultur für alle, den wir diesem Krieg verdanken. Und ein böser Ausblick. Wenn England jetzt erst anfängt, sich für einen Kontinentalkrieg einzurichten, wie lange wird dieser dann noch dauern?

In Frankreich hat der Sozialistenkongress sich in einer Resolution für die Fortsetzung des Kriegs ausgesprochen bis zur Erlangung eines dauerhaften Rechtsfriedens. Die Resolution gelangte mit der ungeheuren Mehrheit von 2736 gegen 76 Stimmen zur Annahme.

Das sind zwei Ereignisse, die nicht Frieden bedeuten, sondern Krieg. Fortsetzung des Kriegs und erhöhte Erbitterung, erhöhte Vernichtung. Hunderttausende junger Männer sollen neuerdings geopfert werden. Das ist der Sinn dieser beiden Ereignisse, die das Kriegsjahr 1915 abschliessen.

Im vorigen Jahr warf ich hier die Frage auf, ob der fürchterliche Krieg am Sylvestertag dieses Jahres beendet sein wird. «Für den, der zu ermessen versteht, wie gross die Erschütterungen sind, die diese fünf Kriegsmonate schon herbeigeführt haben, für den mag es immerhin fraglich erscheinen, ob die Sylvesternacht 1915 schon über ein vom Krieg befreites Europa sich niedersenken wird». — Fraglich. Und ich schloss doch hoffnungsfroh mit einem «vielleicht». Es ist ein feierlicher Ernst, der nach dem Ablauf dieses blutigen Jahres die Antwort auf den fragenden Zukunftsblick des Vorjahres gibt. Und man wagt es heute nicht, mit demselben Zweifel in die Zukunft des neu beginnenden Jahres zu blicken. Alles was kommen muss ist fürchterlich. Schon zu lange hat das Gemetzel gedauert; zu lange schon wurde Europa vernichtet. Unsere Generation kann auch von dem Frieden nichts mehr erhoffen. Mit einem Fluch für das Jahr, das von uns geht, das unserm Leben geraubt wurde, mit einem Fluch für die wahnwitzigen Arrangeure dieses Krieges schliesse ich die Aufzeichnungen für 1915.