Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. Januar 1916.

«Immerhin tritt in der Frage nach der Notwendigkeit dieses Kriegs die subjektive Betrachtungsweise schon ein Stück zurück und die geschichtliche beginnt, sich geltend zu machen. Aber auch diese Frage ist ein Kind jenes ethischen Gefühls, das es nicht lassen kann, mit dem Weltgeschehen zu rechten und das Urteil der Historie zu schelten. Über die eigentlichen Ursachen des Kriegs vermag ihre Beantwortung uns keinen befriedigenden Aufschluss zu geben. Diese werden wir viel eher erhalten, wenn wir den Weltkrieg etwa wie ein gewaltiges Naturereignis (Aha!!) ansehen, entstanden aus Ursachen, die wir zum Teil kennen, und die zwar im ganzen Ergebnisse des menschlichen Willens sind, die aber in ihrer Vielgestaltigkeit und Wucht zu mächtig waren, als dass sie noch von den Händen hätten gemeistert werden können, die zur Verfügung standen, um den Weltbrand zu wehren».

So stand es zu lesen im Neujahrsartikel der «Frankfurter Zeitung», im ersten Morgenblatt, am ersten Januar 1916, in dem einst führenden Organ der deutschen Demokratie. Auch hier der Versuch, durch mystische Redensarten über die Veranstaltung dieses Krieges hinweg zu täuschen. Das österreichische Ultimatum war also ein Naturereignis, die Ablehnung der Verlängerung der Frist ein Erdbeben, die verschiedenen Diplomaten der elf Tage Naturgewalten und Graf Tisza ein Zucken der Athmosphäre. Wenn die Worte Oxenstiernas an Richtigkeit auch nichts eingebüsst haben seitdem sie gesprochen wurden, ist man heute noch mehr berechtigt zu sagen: Du hast keine Ahnung mein Sohn, mit welchem Aufwand man den Mangel an Verstand, der die Welt regiert, zu verdecken sucht. Wo die Blösse zu arg und deutlich wird, dekretiert man Naturgewalt. Genau wie jene amerikanischen Pastoren den göttlichen Willen zur Sklaverei dadurch zu beweisen suchten, indem sie behaupteten, dass Gott den Neger nicht gleichzeitig mit dem Menschen schuf und durch die schwarze Hautfarbe als Sklaven kennzeichnen wollte.

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Ferdinand Avenarius hat sich ein Verdienst erworben mit der Herausgabe der Schrift «Das Bild als Verleumder». Es sind 72 Abbildungen darin enthalten als «Beispiele und Bemerkungen zur Technik der Völkerverhetzung». Furchtbare Verleumdungen und Entstellungen, auf die ich in diesem Tagebuch auch bereits hingewiesen habe (14. März 1915). Avenarius erklärt im Vorwort, dass er auch «verleumderische Fälschungen bildlicher Dokumente durch Deutsche genau ebenso rücksichtslos veröffentlichen» werde. Ich glaube nicht, dass man ihm (abgesehen von der Witzblattpresse, die Unerhörtes leistet) mit Material wird dienen können. Vielleicht aus Österreich, wo die illustrierte Presse noch sehr tief steht. Aber nach einer Richtung wird auch in Deutschland — um mit Avenarius zu sprechen — «die Grundlage gefälscht des Fühlens, des Urteilens, der Entschlüsse». Ich sage «auch» in Deutschland; denn hier im neutralen Land kann man beachten, wie diese Fälschung einfach durch die unlogische Logik des Kriegs bei jedem Volk bedingt wird. Ich meine die Beschränkung der bildlichen Darstellungen über den Krieg in Presse und Kino nur auf schöne Episoden hinter der Front. Wenn man sich diese Bilder ansieht, muss der Krieg als eine Art lustige Karnevalsgeschichte erscheinen. Nur hier und da werden uns Zerstörungen gezeigt, die der «Feind» verursacht hat. Als ob überall nur der «Feind» der Zerstörer wäre. Im allgemeinen merkt man die Absicht, den Krieg als eines der liebenswürdigsten Ereignisse zu zeigen. — Das ist Fälschung. Wir wollen im Zeitalter der Momentphotographie und der Kinographie die wahrheitsgetreue Darstellung des Kriegs in seiner ganzen Fürchterlichkeit. Anders «wird hier das Bild der Dinge gefälscht ... auch die Grundlage gefälscht des Fühlens, des Urteilens, der Entschlüsse». Und, um weiter mit Avenarius zu reden: «So, dass dann in der Welt der Wirklichkeiten unter falschen Voraussetzungen auch gehandelt wird». Zeigt uns den Krieg, wie er ist. Wir brauchen das zu seiner Bekämpfung, zur — Abschreckung. Aber eben deshalb verbietet man es ja. Sapienti sat. — Für den Nichtweisen brauchten wir jedoch die Gewalt des Bildes.

Avenarius’ verdienstvolles Unternehmen sei uns ein Anfang. Wir wollen es fortsetzen. Aber nicht nur das verleumderische Bild. Das verleumderische Wort bietet eine noch reichere Auslese. Mit seiner kurzen Bilderbroschüre hat Avenarius hier an der wichtigen Frage der Hetzpresse gerührt, der wir dieses Blutbad zu danken haben. Welche Aufgabe für den Dürerbund, hier fest hineinzugreifen. Wir Freunde der Völkerverständigung und der internationalen Rechtsordnung wollen mitarbeiten. Aber mit Beispielen von allen Seiten, ohne nationale Prüderie! Die «Technik der Völkerverhetzung» muss international dargelegt werden.