Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

22. Mai (Lugano) 1915.

Die Rede Salandras und die Begründung der kriegerischen Haltung Italiens gegen die Bundesgenossen ist wohl die lächerlichste Rechtfertigung, die einem Krieg je gegeben wurde. Es ist geradezu unerhört, mit welchen Purzelbäumen hier auseinandergesetzt wird, dass man gezwungen sei, einen Krieg zu führen. Da sind die Äusserungen des Sozialisten Ciccotti etwas greifbarer: «Wir hoffen, dass aus diesem Krieg ein neues Europa hervorgehen wird. Wir hoffen auf die Abrüstung, wir wollen die Zivilisation Europas unterstützen.» Hier sieht man doch das Streben, sich ein Ideal zurechtzulegen. Dies fehlt bei den Äusserungen des verantwortlichen Ministers und lässt den Krieg als einen Gelegenheitskrieg erscheinen, wie es Gelegenheitsdiebstähle gibt.

Dieser Eintritt Italiens in den Krieg wird in Deutschland zunächst weniger Hass- oder Rachegefühl auslösen als wirklich ehrliche Kränkung. Italien war für alle Deutsche das Land der Sehnsucht, das Land der Träume, ein aufrichtig geliebtes Land. Seine Landschaften, seine Kunstschätze und Altertümer wurden als der geistige Mitbesitz Deutschlands betrachtet. Die Arbeit unsrer hervorragendsten Geister gehört diesem Lande. Ohne jede geschichtliche Trübung — abgesehen von Österreich — vollzog sich der Verkehr deutschen und italienischen Volkstums seit Jahrhunderten. Dazu kam seit einem Menschenalter das politische Bündnis. Und nun dieser tückische, dem deutschen Wesen so gründlich widerwärtige Zug des Treubruchs.

Ludwig Fulda singt heute im «Berliner Tageblatt»:

«Kennst Du das Land, wohin der Traum uns zog,
Des deutschen Herzens Künstlersehnsucht flog,
Das Land, mit dem ein Menschenalter lang Verbrüderungsschwur uns ineinander schlang?
Kennst Du es wohl?
Daher, daher
Braust feindlich Droh’n wie ein entfesselt Meer.
Kennst Du das Volk, das Freunden ohne Wank
Das Messer in den Rücken stösst zum Dank?
Wir schau’n es starr mit grossen Augen an:
Was haben wir, Du Volk, Dir je getan?
Kennst Du es wohl?
Dahin, dahin
Wird die betrogene Treue nicht mehr ziehen.
Kennst Du den Berg und seinen Wolkensteg?
Andächtig oftmals schritten wir den Weg;
Und wird zum Kreuzzug nun die Pilgerfahrt,
Weiss Gott, wir hätten ihn uns gern erspart.
Kennst Du den Weg?
Dahin, dahin
Ruft ihr den Brand. Soll er sein Werk vollziehn?»

In diesem Gedicht kommt der ganze deutsche Seelenschmerz zum Ausdruck, der das deutsche Volk erfasst.

Aber gar bald wird sich dieses Gefühl der Kränkung in Wut und Hass verwandeln. Die Geschehnisse des Kriegs, ihre Aufbauschung und Verdichtung durch die Presse werden das Nötige dazu tun. Heldenverehrung auf der einen, Verdammung und Fluch auf der andern Seite werden die beiden Völker in fürchterlicher Weise trennen. Und die Italiener werden Ersatz finden in der durch das gemeinsame Schicksal gestärkten Freundschaft mit den Gegnern Deutschlands, in der Harmonie mit allen übrigen Nationen, die sich heute durch den gemeinsamen Hass gegen Deutschland gebildet. Die Welt-Koalition ist fertig. Jene furchtbare Möglichkeit, auf die wir Pazifisten so oft hingewiesen haben, hat sich verwirklicht. Verwirklicht infolge der deutschen Machtpolitik, der Blut- und Eisenfanatiker, der Bismarckschwärmer, Treitschkeschüler, der Alldeutschen, der Flotten- und Wehrvereinler, die wir als die grosse Gefahr des deutschen Volkes erkannten, und gegen die wir einen erbitterten und schmerzlichen Kampf zu führen hatten. Wir waren es, die den Pulsschlag der Zeit verstanden haben, die dahin strebten, dass Deutschland diesem neuen Geist sich anpasse, neben den Kanonen und Panzerschiffen auch die Arbeit der europäischen Organisation betreibe. Hohn und Verachtung wurde uns zuteil. Hier ist nun die Folge dieser Versäumnisse: die Weltkoalition gegen unser prachtvolles, tüchtiges Volk, das in seinem Idealismus irregeleitet wurde von einigen selbst Verirrten.

Wäre es nicht so schmerzhaft, könnten wir den Gang der Ereignisse als Genugtuung empfinden. Wie stünden wir da, wenn unser Ruf erhört und befolgt worden wäre. «Wohin geht Deutschland?» So schrieb ich im Juni 1908 in der «Friedens-Warte» nach einer Erörterung alldeutscher zum Krieg hetzender Zeitungsstimmen: «Wird es diesen verbrecherischen Ratschlägen folgen und den Ausweg durch einen Krieg suchen, der schliesslich alle Gegner und Fürchter des Reichs zu einem mächtigen Halali zusammenführen könnte? Oder wird es der Stimme der Vernunft folgen und unter jähem Bruch mit der allgemeinen Kraftmeierpolitik eine Politik des Friedens, das heisst des wahren, nicht nur des gefristeten Friedens, eine Politik der Weltorganisation betreiben?» — Und Deutschland suchte den Ausweg durch den Krieg. —

Gräfin Hedwig Pötting, Bertha v. Suttners Seelenfreundin, ist — just elf Monate nach dieser — vorgestern dahingegangen. Schuster telegraphierte es mir. Sie ist von langem, fürchterlich qualvollem Leid erlöst worden, so dass ich die Todesnachricht als eine Erleichterung empfand. Hedwig Pötting war eine edle Seele, von einer hohen reinen Weltanschauung erfüllt. Sie lebte voll Anteilnahme an allen Ereignissen des kulturellen Fortschritts mit uns. Bertha v. Suttners Tod war ihr der schwerste Verlust ihres durch Krankheit erschwerten Alters. Fürchterlich litt sie unter dem Krieg und der durch ihn erzeugten Psyche. Ihre letzten Herzensfreuden waren, wie sie mir schrieb, die «Friedens-Warte», die sie gierig las. So ist die gute, treue Seele dahin. Damit eine Stück aus dem Leben Bertha v. Suttners selbst, das uns noch übrig geblieben war. —

Die italienische Armee und Marine sind gestern mobilisiert worden. Das königliche Dekret von gestern macht die Mobilisierung, die bisher im Geheimen betrieben wurde, nur offiziell. Gleichzeitig ist die Präventiv-Zensur für die Presse verfügt worden. Wenn die Friedensparteien die Macht hätten, eine solche Zensur zu verhängen, würde es nie zum Krieg kommen. Nun wird auch die offizielle Kriegserklärung nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf! —

Heute ist Pfingstsonntag! — Wir haben es uns anders vorgestellt. Statt überwunden zu sein, setzt diese fürchterliche Katastrophe noch stärker ein. Was wird noch folgen, und — wie lange noch? —