Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Zürich, 28. September.

Stürme der Entrüstung gehen durch ganz Deutschland über die Nichtigkeit der Regierungsreden im Hauptausschuss. Besonders über Hertlings Ausführungen, die erkennen lassen, dass der höchste Reichsbeamte keine Ahnung von dem hat, was jetzt not tut. Erfreulich die offene Sprache der Blätter von der Reichstagsinehrheil und das kleinlaute Gebahren der Militärs und der Alldeutschen. Es scheint, dass die wirklich «große Zeit» erst jetzt beginnt, wo das Bekenntnis zur Demokratie mit Wucht sich vorwagt. Kriegsminister von Stein fällt über einen Geheimerlaß gegen die Deutsche Friedensgesellschaft. Welche Ironie des Schicksals!

Dabei wird die politische und militärische Situation immer schlechter. Das Debakel Bulgariens und das Verlangen nach Waffenstillstand, das der bulgarische Ministerpräsident an die Entente richtet, ist das bedeutendste Ereignis seit Beginn des Kriegs. Es bezeichnet eine Erschütterung des Vierbundes in dessen kritischster Stunde und kann den Zusammenburch ankündigen. Denn auf Bulgarien muss die Türkei folgen. Und Österreich-Ungarn? Wird man denn dort noch immer nicht erkennen, wo die Rettung liegt? Wird man es erst merken, wenn es wieder einmal zu spät ist? Die Erregung über dieses unerwartete Ereignis ist riesig. In den Argonnen und bei Cambrai haben die Alliierten mit großen Kräften erfolgreiche Offensiven begonnen. Teile Elsaß-Lothringens werden dauernd vom Feind beschossen und müssen evakuiert werden. Bricht der Wahnsinn des Preußentums jetzt zusammen, erlebt das Bismarck-system die Stunden des Gerichts? Wenn das arme deutsche Volk auch blutet, es blutet seiner Genesung zu, seiner Befreiung aus einem Irrtum. Wir zittern vor der Hoffnung auf eine neue Menschheit, mit Schauern begrüßen wir die Geburtsstunde der neuen Zeit. Jetzt beginnt das zwanzigste Jahrhundert! Die Götzen der Artillerie stürzen um!