Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. März.

Endlich ein Schrei aus Österreich, der von der Tribüne eines Parlaments in die Welt hinausgegellt wird: «Es gibt ein Land, wo die Verhältnisse schlimmer liegen als in Deutschland, wo nur höchst selten ein Notschrei aus der Hölle durchdringen kann, und dieses Land ist nicht Russland, sondern es ist Österreich. Nicht Russland sondern Österreich! Diese Worte sprach Karl Liebknecht am 3. März im preussischen Abgeordnetenhaus. Und als der Minister gegen diese, dem «treuen Bundesgenossen» gemachten Vorwürfe auf das schärfste protestierte, fügte Liebknecht noch hinzu: «Was ich über Österreich gesagt habe, halte ich aufrecht. Dort führen die Feldgerichte ein Schreckensregiment, wie es schlimmer in den schlimmsten Zeiten in Russland nicht geherrscht hat».

Diese Behauptung entspricht so ziemlich alledem, was man über die Verhältnisse im lieben Österreich hört. Schreckensregiment! Hinrichtungen zu hunderten, und dann das blödsinnige Geplärre der Pressekosaken über Stärke und Einheit der Monarchie, die sich durch den Krieg erwiesen habe.

Erstaunlich ist es, wie diese Grausamkeiten bei dem sonst so gutmütigen Charakter des Österreichers möglich sind. Gutmütigkeit ist eben Dummheit. Und in seiner Dummheit meint der mit den unbeschränkten Machtbefugnissen ausgestattete Österreicher, er tue wirklich etwas Gutes, wenn er gegen die armen Opfer des Ausnahmezustandes mit der grössten Strenge vorgeht. Und so wird er aus Gutmütigkeit brutal. Die Schrecken des Jahres 1848, die man überwunden wähnte wie die Mythologie der Griechen, sind neu und so unendlich verstärkt erwacht.

Gestern besuchte mich ein junges Mädchen aus Wien (Frl. L. G.), die sich naiv erkundigte, wann der Friedenskongress in Bern stattfinde. Im Gespräch ergab sich, dass sie die Heimat, die Eltern, eine sichere Stelle verlassen hat, weil sie das Elend, das Seelenweh, die Not des Daseins nicht mehr mit ansehen konnte. Ihr einziger Bruder ist sechsundzwanzigjährig gefallen. Alle Jugend ringsherum fällt, der Anblick der Siechen und Verkrüppelten ist entsetzlich, nicht minder der Anblick der Greise und Kinder, die mit dem schweren Rüstzeug beladen für die Fortsetzung des Gemetzels abgerichtet werden.

Und trotz all diesem Elend gibt es wirklich noch Durchhalter, sogar unter den Pazifisten. Dies belehrte mich ein gestern empfangener Brief meines Freundes G. M. in Paris, der mich ob meines in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienenen Artikels über «Die Technik des Friedensschlusses» des Umfalls beschuldigt. Bei einem Frieden ohne Sieger, meint er, gebe es doch Besiegte, diese wären die Freiheit, das Recht, das gegebene Wort. Nicht nur der «zweite Krieg» ist nötig, wenn es sein muss auch noch ein dritter. Und wenn die Alliierten vor die Alternative gestellt sein sollten mit Deutschland ruiniert zu werden, wenn sie den Krieg fortsetzten, ohne Deutschland allein, wenn sie ihn aufgeben, so werden sie es vorziehen, Deutschland in den Ruin mitzuziehen.

Das sagt Harden ebenso: «Nur von der gemeinen Not des Erdteils, nicht von greulicher Sondergefahr ist Deutschland bedroht». Das sind schlechte Tröster, die aus nationalem Trotz lieber den Ruin Aller wünschen, denn einen schlechten Frieden, der die Möglichkeit einer Erholung in absehbarer Zeit für alle bietet. — — Schlechter Frieden! «Es gibt keinen ,schlechten’ Frieden», sagt Benjamin Franklin. Und der Friede, der diesem Wahnsinn folgen würde, den man euphemistisch noch Krieg nennt, wäre sicher kein schlechter.

«Umgefallen» bin ich nur in einem Punkt. Mein Lehrsatz: «Wir Pazifisten sind keine Feuerwehr, die man ruft, wenn der Brand ausgebrochen ist, sondern nur die Vertreter einer Imprägnierungsanstalt, die ein Mittel anbieten, um Brände zu verhüten,» kann auf diesen Weltbrand keine Anwendung finden. Das traf zu, wenn es sich irgendwo an der Peripherie der Kultur um einen Zweikrieg handelte. Heute brennt der Boden unter unsern Füssen, und wir wären Idioten, wenn wir statt Rettungsversuche zu unternehmen, statt zu versuchen, was noch zu retten ist, uns darauf beschränken wollten, unsere Imprägnierungssalbe für später schreiend anzubieten. Es gibt kein «später» mehr, wenn wir kein Ende finden! Es gibt keinen Boden mehr auf dem wir stehen können, wenn wir nicht zu löschen versuchen, was unter unsern Füssen brennt.

Man muss auf beiden Seiten den Mut haben, der Zukunft ins Auge zu sehen. Ihre Gefahren nehmen sich dräuend aus, wenn wir sie aus dem Gesichtswinkel der blutenden Gegenwart ansehen. Sie werden zerrinnen, wenn erst die Ordnung wieder Wirklichkeit geworden ist, wenn die Völker, die so bitter gelitten haben unter diesem Kriege, ihre Bürgerfreiheit und ihren Bürgerberuf wieder gefunden haben werden. Die Befürchtungen, die man heute unter der Herrschaft des Schreckens haben muss, werden sich als eitel erweisen, wenn wir erst wieder Frieden haben. Der Krieg wird uns helfen, sie zu überwinden, die Vernünftigen in allen Ländern zu stärken, und jene Gespenster für immer zu verjagen, die diesen Krieg ermöglicht haben. Man muss nur den Mut haben, die Rettung der Zukunft zu wagen, das neue Europa farà da se!

Der Zufall wollte es, dass ich gestern noch eine Französin kennen lernte, die mich belehrte, dass es noch andere Gesinnungen in Frankreich gibt, die der meinen ähnlich sind, und die von dem Wahnsinn des Durchhaltens nichts wissen wollen, die die Unmöglichkeit einsehen, diesen Krieg zu Ende zu führen.

* * *

Die neue Kriegsanleihe liegt auf und wird mit grossem Pomp an Worten angekündigt. Damit werden vierzig Milliarden der Bestie des Kriegs in den Rachen gejagt werden.

Vierzig Milliarden! Das Gesamtkapital der am 30. September 1909 in Deutschland gezählten 5222 Aktiengesellschaften betrug 14.737 Millionen Mark, darunter befanden sich 461 Banken mit 3848 Millionen Mark Kapital. Der Krieg hat also bisher mehr als zehnmal soviel verzehrt als das Kapital sämtlicher Banken des Deutschen Reiches betrug. —

Wie lautete die Mär von dem Wohlstandspender Krieg, die wir vordem so oft hörten, und wer brach denn in dröhnendes Gelächter aus, wenn man den Krieg als ungeheuren Vernichter und Wertezerstörer darstellte?