Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

25. Oktober (Bern) 1914.

Eine Woche lang keine Eintragungen. Und doch war diese Woche so reich an Eindrücken.

Es war schon lange meine Absicht, mich in ein neutrales Land zu begeben, um einen besseren Überblick über die Ereignisse zu erhalten, die fremden Zeitungen lesen zu können, mit Freunden im Ausland in Verbindung zu treten und mit neuen Menschen zusammenzukommen, die nicht unter dem erlahmenden Einfluss einer gewissen Wiener Presse stehen.

Am 18. abends reisten wir von Wien ab. Direkter Zug nach Zürich. Sonderbares Erlebnis als ich mir am Bahnhof Buchs die ersten französischen Zeitungen kaufte. Endlich einmal einen Blick in die Psyche der andern. Mittags Zürich. ln Zürich übernachtet. Am 20. nach Bern. Nippold und Schücking besuchten mich im Hotel.

Gestern hatten wir in den Räumen des Berner Bureaus die Gründungssitzung eines neuen Komitees. Vom Auslande waren nur Schücking, Stehelin und ich anwesend. Dr. Curti, der frühere Direktor der «Frankfurter Zeitung», der sich aus der ihm unangenehm gewordenen Atmosphäre Strassburgs, wo er seinen Ruhesitz aufgeschlagen hatte, nach den ruhigen Gestaden des Thunersees zurückgezogen hat, präsidierte. Sonst waren anwesend: Nationalrat Scherrer-Füllemann, Dr. Bucher-Heller, ein früherer amerikanischer Vizekonsul Frankenthal u. a.

Man einigte sich auf ein Mindestprogramm, das die Richtlinien enthält, die bei dem künftigen Friedensschluss massgebend sein sollen, nach einer von mir und Schücking vorher gemachten Aufstellung.

Das Ergebnis war die vorläufige Gründung dieses Komitees, dessen Geschäfte der Schweizer Ausschuss führt. In allen Ländern sollen Vertrauensmänner ernannt werden zur Bildung von nationalen Komitees. Es soll alsdann eine Denkschrift ausgearbeitet werden, die den Regierungen als Material zu überweisen sein wird. Ob viel dabei herauskommen wird, will ich bezweifeln.

Augenblicklich teilen sich die Ideen der Pazifisten in drei Gruppen:

1. Diejenigen, die die Schuld an dem Krieg festzustellen suchen.

2. Diejenigen, die den Krieg beendigen wollen.

3. Diejenigen, die den künftigen Frieden zu einem, in pazifistischem Sinne wahren Frieden gestalten wollen.

Die ersten beiden Gesichtspunkte sind jetzt völlig irrelevant und für den Pazifismus deshalb gefährlich, weil sie uns trennen müssen. Es kann mit der Lösung jener Fragen jetzt auch nichts erreicht werden. Dies wird später erledigt werden, wenn die Geister ruhig sind. Punkt zwei fällt überhaupt nicht in den Bereich unserer eigentlichen Aufgaben. Denn wir haben uns nicht die Aufgabe gestellt, die Kriege abzukürzen, sondern sie zu vermeiden. Ausserdem erregen wir mit diesem Versuch den berechtigten Hass der Kriegführenden, die alle noch keine entscheidenden Vorteile errungen, hingegen ungeheure Verluste erlitten haben, und die nicht eher an den Frieden denken wollen, bis sie nicht glauben, einen ihren Opfern entsprechenden Sieg erreicht zu haben. Überdies sind wir in dieser Hinsicht völlig ohnmächtig. Die Vermittlung wird nicht von Privaten durchgeführt werden sondern von Regierungen. Diese werden den geeignetesten Augenblick nicht verfehlen. Sie darauf hinzuweisen, ist überflüssig, weil alle neutralen Länder durch die Kriegführung derartig in Mitleidenschaft gezogen sind, dass es ihr ureigenstes Interesse verlangt, den Krieg beendigt zu sehen.

So bleibt für unsere Aufgabe lediglich der dritte Punkt: die Vorbereitung des künftigen Friedens. Dieser Aufgabe müssen wir uns aber mit vollem Nachdruck widmen. Wir dürfen keinen Augenblick zögern, mit den Vorarbeiten zu beginnen. Zur Zeit der Friedensverhandlungen müssen wir erzbereit sein.

Leider hat nach dieser Richtung das Berner Bureau völlig versagt. Ihm hätte die Aufgabe obgelegen, diese Vorarbeiten in die Wege zu leiten, den Verkehr der Pazifisten in den verschiedenen Ländern aufrecht zu erhalten, die Organisationen zu ermutigen und ihren Bestand zu sichern, Dokumente über die Tätigkeit der Friedensorganisationen in allen Ländern zu veröffentlichen, und damit der Welt zu zeigen, dass der Pazifismus lebt und nicht die Absicht hat, abzudanken. Das Bureau würde damit die universelle Weltströmung gegen den Krieg unserer Sache nutzbar gemacht haben.

Meine Absicht ist es hier, das Bureau an seine Aufgabe zu erinnern. Es scheint etwas passiver Widerstand vorhanden zu sein. Wenn es nicht gelingt, ihn zu brechen, muss man das Bureau seinem verdienten Schicksal überlassen.

Die Lage auf den Kriegsschauplätzen hat sich nicht entscheidend verändert. Die Kampffront im Westen hat sich bis an den Kanal ausgedehnt. Dort in der Nordostecke Frankreichs und im letzten Winkel Belgiens spielen sich heisse Kämpfe ab. Anscheinend mit wechselndem Erfolg. Im Osten haben sich die Deutschen vor Warschau zu einem Rückzug entschlossen, die Österreicher haben Fortschritte in den Karpathen gemacht und sind wieder nach Czernowitz gelangt. Bei Przemysl und am San wird blutig und erbittert gekämpft.

Der Überblick wird durch die Möglichkeit, Zeitungen des Auslandes zu lesen, nicht viel klarer. Nur die Stimmung der Andern vermag man zu erkennen und über einige Vorgänge, die bei uns verschleiert werden, erfährt man doch etwas. Dass bei Cattaro und in der Adria gekämpft wird, dass die Kämpfe in Bosnien und in Serbien sehr erbittert und nicht immer für Österreich-Ungarn erfolgreich geführt werden, dass Italien Valona besetzt hat sind Dinge, die man nur hier erfährt. Die französischen Zeitungen bringen wie die Wiener Blätter fast nur Anekdotenkram, auch viel Hetz- und Verleumdungsausbrüche. Diese Presse! Sie schädigt die Kultur mehr als jene Granatsplitter, die ein Stückchen von einer Kathedrale abbröckeln. Diese Kathedralen werden nach dem Krieg in wenigen Jahren zu restaurieren sein. Die durch die Presse verstümmelte Volkspsyche vielleicht nicht in Jahrzehnten.

Viel Unheil richten die deutschen Gelehrten und Schriftsteller, wie die Künstler an, die sich — entgegen ihrer Gewohnheit — sichtlich mit dem Bestreben, ihrem Vaterland zu dienen, an der Hetze beteiligen. Der «Aufruf an die Menschheit», den ungefähr 100 deutsche Gelehrte und Künstler erlassen haben, hat im Ausland viel böses Blut gemacht. Eine gehässige Antwort darauf veröffentlicht Yves Guyot in Form eines offenen Briefes an Lujo Brentano. Er macht darin den Deutschen den Vorwurf, nach der Methode der alten Assyrer Krieg zu führen, und hinter den Vandalen nicht zurückzustehen.

Ach, wenn die Gelehrten und Künstler sich nur halb so viel für die Verständigung der Völker eingesetzt hätten, wie sie sich jetzt für deren Entzweiung einsetzen, wäre uns allen mehr gedient.

Das kann man übrigens hier mit Schrecken feststellen, dass der Hass gegen Deutschland in der ganzen Welt allgemein ist. Deutschland wird viel tun müssen, um sich Sympathien zu erwerben, denn gegen die Weltverachtung, gegen den Weltbann kann auch das stärkste Volk sich auf die Dauer nicht behaupten. Es wird moralische Eroberungen machen müssen, für die es ganz besonderer Schlagkraft benötigen wird. Wir Pazifisten werden berufen sein, diese Waffen zu liefern. Sie stehen fertig in unserm Arsenal. Die Überrennung Belgiens, die Misshandlung seiner Bewohner, die Zerstörung der Städte und Kunstdenkmäler will man in der Welt draussen trotz aller Gegenargumente nicht vergessen.

Überhaupt diese Gegenargumente. Es war vielleicht ein Fehler, dass man deutscherseits so emsig bemüht war, die Behauptungen des Auslandes zu widerlegen. Das hat allenthalben einen schlechten Eindruck gemacht und das Gegenteil dessen bewirkt, das man bezweckt hat. Qui s’excuse s’accuse. Im übrigen sind diese Argumente nicht sehr geschickt. Von dem in den Brüsseler Archiven aufgefundenen Dossier über eine belgisch-englische Aktion gegen Deutschland hat man die Hauptsache weggelassen. Nämlich, dass die Abmachung nur für einen deutschen Angriff gilt. Auch die Behauptung, dass auf den Türmen der Reimser Kathedrale ein französischer Beobachtungsposten stand, wird bestritten. Andere wieder sagen, dass, wenn dem auch so gewesen wäre, die Vertreibung dieses Postens für die Deutschen nur den einen Zweck gehabt hätte, dass sich dieser auf einen anderen Aussichtspunkt begeben habe. Die Beschiessung wäre aus dem Grunde erst recht nutzlos gewesen.

Im preussischen Abgeordnetenhaus gab es am 22. eine Kriegssitzung. Einstimmig, fast ohne Debatte (nur ein Sozialdemokrat hat gesprochen und dabei die Rechnung präsentiert: Allgemeines Wahlrecht für Preussen) hat das Haus die Notstandsforderung von 1 1/2 Milliarden votiert.

Aus der Schlussrede des Präsidenten Grafen Schwerin-Löwitz sei hier einiges vorgebracht. Er sagte u. a.: «Bitter ist die Zeit, in der wir leben, und doch so gross und herrlich, dass jeder von uns sich glücklich preisen darf, sie noch miterleben zu dürfen. (Lebhafter Beifall). Es wird in unserem Volke kaum noch ein Haus geben, in dem nicht Trauer wäre und kaum noch eine Familie, die nicht mindestens eines ihrer Mitglieder, oft das liebste, für das Vaterland opfern musste.» — Aus welchem Zeitalter stammt wohl solche Sprache? — Gross und herrlich die Zeit, wo es kaum noch eine Familie gibt, die nicht mindestens eines ihrer Mitglieder opfern musste! — Gross und herrlich? —

Eigentümlich berührt die Art, in der in dieser Rede und in der vorangehenden des Staatssekretärs Dr. Delbrück von dem durch den Neid und die Missgunst aufgedrungenen Krieg und dem frevelhaften Überfall gesprochen wird. Unter «stürmischem Beifall im Saal und auf den Tribünen». Das setzt sich fest in den Köpfen. So überfallsmässig war doch die Vorgeschichte des Krieges nicht. Diese Redensart wird nicht standhalten der Kritik, die später einzusetzen hat.