Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

9. September 1914.

Maubeuge gefallen. 40,000 Gefangene! Kaiser Wilhelm richtet an den Präsidenten Wilson einen Protest gegen die unhumane Kriegführung der Engländer, Franzosen und Belgier. Fabrikmässig hergestellte Dum-Dum-Kugeln wurden bei den gefangenen Franzosen vorgefunden. Auch sind die Beweise dafür vorhanden, dass die Franktireur-Taten — namentlich jene in Löwen — von der Regierung organisiert waren. — Dieser Protest ist insofern erfreulich, als der Kaiser darin den Präsidenten «als den hervorragendsten Vertreter der Grundsätze der Menschlichkeit» anspricht und anerkennt. Das Ansehen des Oberhauptes der Vereinigten Staaten wird dadurch gehoben, was im Interesse der von ihm zu erwartenden Vermittlung auf das höchste erwünscht ist.

Diese Dienste der Vermittlung soll Wilson bereits zu Beginn des Krieges angeboten haben. Nach der Meldung amerikanischer Zeitungen hat er dem deutschen Kaiser, dem Kaiser von Österreich und dem Zaren, wie dem König von England und dem Präsidenten von Frankreich folgende Botschaft zugehen lassen:

«Als amtliches Haupt einer der Mächte, die den Haager Vertrag unterzeichnet haben, empfinde ich es als mir gemäss Artikel 3 des Vertrages erwachsendes Vorrecht und Pflichtgebot, Ihnen im Geiste ernstester Freundschaft zu erklären, dass ich eine Gelegenheit, jetzt oder an irgend einem anderen, für mehr geeignet gehaltenen Zeitpunkt im Interesse des europäischen Friedens zu handeln, als eine Möglichkeit begrüssen würde, Ihnen und allen Beteiligten in einer Weise dienen zu können, die mir ewig eine Ursache des Dankes und Glückes sein würde.»

Eigentümlich berührt es, dass die Mächte der Triple-Entente am 6. September einen Vertrag abschlossen, wonach sie sich wechselseitig verpflichten, keinen Separatfrieden zu schliessen. Das «Berliner Tagblatt» fügt dieser Meldung hinzu: «Wir wollen abwarten, ob die Ereignisse nicht stärker sein werden als ein Stück Papier». — Der Separatfriede mit den Westmächten erscheint mir nach wie vor als die beste Lösung dieser fürchterlichen Krisis und das für die Menschheit die besten Ausblicke bietende Mittel.

Gestern sagte mir Einer: Nach diesem Frieden, der jetzt kommen wird, kann ich ruhig mein Leben lang Pazifist bleiben; denn dann bekommen wir mindestens ein halbes Jahrhundert keinen Krieg. — Das war für mich wieder ein Blitz, der mir den Abgrund der Unwissenheit über die pazifistische Lehre enthüllte. Immer nur der Gedanke an den Nicht-Krieg! Als ob alles erreicht wäre mit einem Friedensschluss, der die Beziehungen der Staaten wieder — wie vorher — auf der Spitze der Bajonette beruhend belässt; als ob es nicht das Wichtigste wäre, aus diesem Kriege jene neue Konstellation Europas hervorgehen zu sehen, die wenigstens die Anfänge der organisierten Staaten dieses Erdteils umfasst. Hoffentlich siegen wir den Westen mit dem europäischen Zentrum zusammen!

Gestern ist Goldscheid nach langer Abwesenheit zurückgekehrt. Ich freue mich, jetzt einen in meiner Nähe zu wissen, mit dem ich mich über die Ereignisse verständigen kann. Als ich ihn kurz am Telephon sprach, rief er mir zu: «La raison continue». Darin behält er auch recht. Ich hege die gleiche Ansicht, wenn ich meine Weltanschauung und meine Hoffnungen auf die «Logik der Dinge» richte. Rückschläge und Katastrophen gab es immer auf der Bahn des Fortschritts. Aber: La raison continue. Dem Satz «Es irrt der Mensch so lang er strebt» kann man den Satz entgegenhalten «Die Menschheit irrt nicht». Die Entgleisungen der Einzelnen korrigiert der Weg der Gesamtheit.

Wieviele sehen in diesem Kriege das völlige Debakel des Völkerrechts. Keineswegs! Gerade die Empörung gegen diese Rechtsbrüche beweist, dass das Völkerrecht notwendig ist. Der Wunsch, ihm eine stärkere Kraft zu geben, wird dadurch nach dem Krieg aufleuchten. Es sei nicht vergessen, wie gerade nach dem deutsch-französischen Krieg ein grosser Aufschwung der Völkerrechtswissenschaft und -Praxis stattfand. Im September 1872 fand der wichtigste Schiedsfall — der Alabamastreit — in Genf seine Erledigung, und ein Jahr später — am 11. September 1873 — fand zu Gent die Gründung des «Institut de Droit international» statt. Wenige Wochen später — am 11. Oktober 1873 — die Gründung der «Int. Law Association». Unmittelbar nach dem Krieg erschienen die hervorragendsten Werke der Völkerrechtsliteratur von Lorimer, Laveley und Bluntschli, begann in den Parlamenten aller Länder eine Aktion für die Ausbreitung der Schiedsgerichtsbarkeit und Völkerverständigung. Auch die Anregungen zur Gründung der interparlamentarischen Union setzten damals ein.

Es wird nach diesem Völkerkrieg in erhöhtem Masse der Ruf nach der Festigung des Völkerrechts einsetzen. La raison continue.