Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Interlaken, 28. August.

Mittlerweile den Greyschen Brief im Wortlaut gelesen. Ein Dokument von grosser Bedeutung. Ruhige und sehr einleuchtende Widerlegung des deutschen Standpunkts.

Über die Dokumente, aus denen Deutschland folgert, Belgien hätte schon längst selbst seine Neutralität verletzt, erklärt Grey, dass von den betreffenden Besprechungen des englischen Militärattachés in Brüssel der Regierung nichts bekannt war und diese in keiner Weise die britische Regierung verpflichteten, «da kein Abkommen und kein Einverständnis zwischen der belgischen Regierung und der britischen Regierung bestand». Das aufgefundene Dokument erkläre überdies ausdrücklich, dass man bei der Besprechung einzig den Fall im Auge hatte, dass belgisches Gebiet durch Deutschland verletzt werden würde.

Grey weist ferner nach, dass bei der deutschen Regierung schon vor der Entdeckung jener Dokumente die Absicht bestanden hat, die belgische Neutralität zu verletzen. «Die Neutralität war also vorsätzlich verletzt worden, obgleich Deutschland diese Neutralität positiv garantiert hatte. Sicherlich war nichts verächtlicher und verwerflicher als das Bestreben, die Verletzung der belgischen Neutralität post factum zu rechtfertigen». Aus dem Umstande, dass der Reichskanzler in seiner letzten Rede auf jene Anschuldigungen gegenüber Belgien nicht mehr bestanden habe, glaubt Grey die Frage aufwerfen zu können, ob die Beschuldigung damit zurückgenommen und Deutschland bereit sei, «für die grausame Ungerechtigkeit, die es Belgien gegenüber begangen hat», eine Entschädigung zu zahlen. — So wenig ich glaube, dass diese Frage bejaht werden dürfte, erscheint sie mir als Merkmal einer beginnenden Erörterung von Wichtigkeit.

Bezüglich der Verhandlungen von 1912 macht Grey die von mir schon früher hier notierten Einwände. Dann kommt das Fürchterliche: «Der Krieg wäre vermieden worden, wenn man den Gedanken einer Konferenz genehmigt hätte». Das ist leider wahr, und die Worte der Begründung Greys hierfür schnitten mir tief ins Herz, besonders der Schlußsatz: «Die Tatsache, dass Deutschland die Konferenz ablehnte, hatte, obwohl sie noch nicht über die Teilnahme Englands am Krieg entschied, in Wirklichkeit den Erfolg, die Frage über Frieden und Krieg in Europa zu entscheiden und für viele hunderttausend in diesem Krieg gefallener Männer das Todesurteil zu unterschreiben».

Es folgt ein Hinweis auf das Angebot des Zaren, den Streitfall dem Haager Schiedsgericht zu unterbreiten. Daran wird die Frage geknüpft: «Gibt es in Deutschland oder Österreich-Ungarn einen freien Menschen, der, in Berücksichtigung der Ereignisse des letzten Jahres, nicht bedauert, dass weder der russische Vorschlag noch der englische Vorschlag angenommen wurden?»

Zum Schluss geht Grey auf das vom Reichskanzler und dem Staatssekretär Helfferich entwickelte Friedensprogramm ein und kommt dabei auch auf das Problem der «Freiheit der Meere» zu sprechen. Er bestätigt darin das, was ich in meinem Artikel «Der Makel der Friedensbereitschaft» als seine Anschauung darüber mitteilen konnte. Er sagte: «Die Freiheit der Meere kann nach dem Kriege einen sehr vernünftigen Gegenstand von Verhandlungen, von Entscheidungen und Abkommen zwischen den Nationen bilden, doch kann diese Frage nicht für sich allein behandelt werden ... Wenn in Zukunft Garantien gegen den Krieg gelten sollen, so sollen diese Garantien gleichmässig ausgedehnt und wirksam sein und Deutschland so gut wie die andern Nationen binden, die unsrige eingeschlossen».

Das ist ein Programm. Es strebt nach einer Staatenorganisation zur Verhinderung des Krieges.

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Das Juli-Heft des «Forum» mit lebhafter Zustimmung gelesen. Wilhelm Herzog befasst sich mit den Alldeutschen, den «Propheten» des Weltkriegs, die bereits vom «nächsten» Weltkrieg träumen. Er schreibt: «Alles, was die Alldeutschen wollen, scheint mir bis aufs Blut bekämpfenswert. Die Primitivität ihrer Weltanschauung, der Idiotismus ihrer Rassentheorien, ihr roher und menschenfeindlicher Idealismus, der klotzige Ehrgeiz ihrer Weltmachtpläne bei sichtbarem Mangel jeder Verfeinerung, ihre Gleichgültigkeit dem Menschlichen gegenüber, ihr Pochen auf die brutale Macht».

Sehr wahr und deutlich!

Auch sonst alles prachtvoll in dieser Nummer.

Ich freue mich ob dieses Zuströmens neuer Kräfte von allen Seiten, kann mich dabei aber eines schmerzvollen Gedankens nicht enthalten: wo waren die alle früher? Früher, als es noch zu retten galt, das Unheil noch abgewendet werden konnte, und wo man uns Pazifisten gleichgültig dem Spott und den Stichen der Kriegshetzer und Schürer überliess. Die Ideen sind alt, sie entbehrten nur des Nachdrucks der Zahl. Diesen unterlassen zu haben bleibt Eure Sünde!