Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 6. September.

Es wird ernst in der Welt. Die Katastrophe, die Deutschland droht, kann sich zu einem furchtbaren, zu einem entsetzlichen Ereignis ausgestalten. So glatt und einfach, wie sich manche Leute mit leichtbeschwingten Gedanken das denken, darf man es sich nicht vorstellen. Ein Zusammenbruch Deutschlands kann nur unter Erschütterungen vor sich gehen, die die ganze Welt erzittern machen, und deren Ausläufer noch durch die Jahrzehnte spürbar sein werden. Dieser Zusammenbruch mag ja noch in der Ferne liegen, aber die Möglichkeil allein lässt die Schwere des Vorgangs verspüren und erkennen.

Zeichen, dass man in Deutschland die Lage als ernst ansieht, liegen in großer Zahl vor. Zuerst die zügellose Redefreiheit für radikale und sonst so verpönte Friedensreden, wie die Reden der Solf, Prinz Max von Baden, Haussmann. Dann die Artikel Dernburgs, Gotheins u. a., jetzt ein Interview mit dem deutschen Kronprinzen, eine Kundgebung Hindenburgs, des Reichskanzlers ernste Ansprache vor der Verfassungskommission des preußischen Herrenhauses. Aber diese Äußerungen geben einigermaßen eine Aufklärung über den Grund, dass es der deutschen Heeresleitung nach 54 Tagen noch nicht gelungen ist, die Front im Westen zum Stehen zu bringen. Der Kronprinz spricht von der «kolossalen Übermacht» des Gegners, Hindenburg wendet sich gegen die vom Feind unternommene «Vergiftung des deutschen Geistes an der Front und im Hinterland», und der Reichskanzler Graf Hertling droht den Torys des preußischen Herrenhauses, dass ihre Verschleppung der Wahlvorlage «der Agitation (welcher?) Nahrung geben und zu schweren Erschütterungen führen» werde. Er drohte, dass es später nicht möglich sein werde, «einer zu weitgehenden Radikalisierung unseres staatlichen Lebens» vorzubeugen. So hat der unaufhörliche Vormarsch der Entente anscheinend seinen Grund in dieser numerischen Übermacht und in einer Erlahmung des Kampfelans der deutschen Heere. Nichts natürlicher! Nach vier Jahren Krieg muss dieser Elan erlahmen, und wenn das bei der Entente nicht der Fall ist, im deutschen Heer aber ja, so liegt das eben daran, dass der Entente die von deutschen Führern in so frevelhafter Kurzsichtigkeit unterschätzte amerikanische Hilfe die Zuversicht und den Elan stärkt, dass der Entente ihr demokratisches und beglückendes Friedensideal Schwungkraft verleiht, während in Deutschland die Einsicht, dass es unmöglich ist, gegen eine ganze Welt zu siegen, das dumpfe Gefühl der Schuld am Krieg, das trotz der ruhrigen Verdunklungsmethoden aus allen Seelen lastet, und der Druck der autokratisch-militärisch-alldeutschen Schreier eine Auffrischung des Kampfelans verhindern. Es scheint ein seelischer Zusammenbruch an der Front und im Hinterland sich zu vollziehen, und den wird die pazifistische Kundgebung des Kronprinzen und die verdammenden Mahnworte Hindenburgs nicht aufhalten.

Der Kronprinz hat in jenem Interview bestritten, dass er ein Kriegsheber war. Kein Wort davon sei wahr! — «Kriegsheber» ist wohl das richtige Wort nicht; aber dass der deutsche Kronprinz ein Friedensfreund, ein Friedenswoller, ein Friedensförderer war, wird niemand behaupten können. Es ist ja noch unvergessen, wie er im November 1911 der Kriegshebrede von Heydebrands im Reichstag von seiner Loge aus Beifall spendete. Unvergessen sein Buch, das im Frühjahr 1913 erschien, worin er sich zur Unvermeidbarkeit des Kriegs bekannte, in dem er sich als Bewunderer des Kriegs, als Gegner der Friedenswoller zeigte, die er als «undeutsch» verächtlich machte. «Donnerwetter, wenn es doch ernst wäre!» Dieser Satz, «der Wunsch jedes Reiter», steht in jenem Buch. Unvergessen ist auch seine Abschiedsrede an die Danziger Husaren, die in der Zabernzeit gehalten wurde. Nun ist es doch «ernst». Schon lange ernst, und es wird immer ernster. Der deutsche Kronprinz ist «Pazifist» geworden. Was man jetzt so als Pazifist bezeichnet. Und in seinem Ausblick über Sieg und Kriegsende weicht er von den bisher bis zur Erschöpfung vorgebrachten Eroberungsphrasen sehr resigniert ab. Unter Sieg will er nicht die Vernichtung der Feinde verstanden wissen, nur die eigene Behauptung und das Kriegsende erwartet er — ganz wie Kühlmann es zu sagen wagte — nicht von militärischen Ereignissen, sondern von der Einsicht der Feinde, «dass der kolossale Einsatz dem Gewinn nicht gleichwertig ist, dass sie nicht so viel gewinnen können, als sie dabei verlieren müssen.

Was werden die Kilometerfresser, die Belgieneroberer, die, die ohne flandrische Küste, ohne Briey und Longwy sich keine deutsche Zukunft vorstellen können, zu diesen defaitistischen Äußerungen des deutschen Kronprinzen sagen?

Hindenburg warnt vor den in großen Mengen abgeworfenen Flugschriften der Feinde, «die den Geist töten sollen». Er schildert, wie diese Flugschriften von der Front in die Heimat wandern. «Zu Hause wandert es dann von Hand zu Hand, am Biertisch wird es besprochen, in den Familien, in den Nähstuben, in den Fabriken, auf der Straße.» Dann fließt dieses Gift wieder zur Front. Dieses geistige Gift wird aus Äußerungen deutscher Männer und deutscher Zeitungen gebraut. Die Zitate aus den Zeitungen seien aus dem Zusammenhang gerissen, aber die Äußerungen Deutscher stammen von Verrätern, die im neutralen Ausland weilen, «um nicht unseren Kampf und unsere Entbehrungen teilen zu müssen». Die Kundgebung, die das Datum des Sedantages trägt, ruft zur Verachtung dieser Deutschen auf, die «zwar dem Namen und der Abstammung nach deutsch sind, aber ihrem Wesen nach im Feindeslager stehen».

Das ist der Bannfluch gegen jene, die die strafenden Vorwürfe gegen das Gebahren der Kriegsmacher und Kriegsfanatiker noch erheben können, die noch nicht mundtot oder ganz tot gemacht wurden von der Militärautokratie; der Bannfluch gegen jene, die inmitten des Ozeans der Lüge die Wahrheit sagen und den Namen und das Ansehen des deutschen Volkes zu retten suchen. Und nun sollen gerade diese Patrioten, die aus Liebe zu Volk und Heimat sich freiwillig verbannt haben und sich auflehnen gegen die Niedertracht des Kriegs, die Niederlage verschuldet haben, die in Wirklichkeit nur die Borniertheit der Säbelraßler verursachte. Die feierlichsten Beschwörungen und Flüche werden das nicht ändern.

Das Gift ist nicht mehr zu bannen. Es kommt auch nicht von außen. Seit vier Jahren haben es die Apologeten dieses Kriegs, die Führenden unter den Militärs und Beamten, dem Volk in Form von falschen Verheißungen eingeflößt. Jetzt, wo die Enttäuschungen kommen, wirken diese falschen Vorspiegelungen der falschen Propheten als Gift. Damit hat der Feind nichts zu tun, nichts, gar nichts!

Es gibt nur ein Gegengift: Rückkehr zur Wahrheit, Aufstieg zur Demokratie und Abkehr von den falschen Göttern, die das deutsche Volk diese Bahn des Unheils geführt haben.