Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

23. September 1914.

Etwas ähnliches bietet ein Bericht Paul Blocks im «Berliner Tagblatt» über «Ostpreussen im Krieg» in der Nr. 480 vom 21. September. Da wird von dem Maler Dettmann erzählt, dieser habe sich beklagt, dass er für sein Bild von der Schlacht bei Düppel keine rechten Modelle finden konnte. «Die Gesichter waren anders geworden, kultivierter (!), weicher, gepflegter, aber auch gleichgiltiger. Es gab nur noch (!) Menschen in Glacehandschuhen und mit Tennisrakets (!!), und sogar die Arbeiter hatten etwas Überlegtes, Zweifelndes». — «Und nun ist der Krieg da,» sagte Dettmann, «und die grossen Köpfe sind auf einmal wieder zu sehen. Die Stirnen werden freier, der Gesichtsausdruck ist kühn, die Linien zeigen eisernes Wollen. Schöner sind diese Männer geworden, auch wenn sie sich ein paar Tage lang nicht waschen konnten! Wie die Philosophen darüber denken, weiss ich nicht, aber uns Künstlern gibt die Grösse des Kriegs Grosses.» Sollte es nicht der vorschriftsmässige Haarschnitt sein, der die Gesichter verändert, und ist der ungewaschene Schädel dem gepflegten wirklich vorzuziehen? Grösse zu finden, wo doch alle Voraussetzungen jener Wesenheit fehlen, der wir als höherer Sittlichkeit zustreben, vermag doch nur eine vom Kriegswahnsinn erfasste Psyche.

Oh, diese Psyche! Vielleicht ist jetzt ein gescheiter Mensch am Werke, ihre Äusserungen, die jetzt so überreich Zuströmen, zu sammeln und zu studieren. Es wird ein verdienstvolles Werk werden, die Kriegspsyche (der Nicht-Kämpfer) zu ergründen und wissenschaftlich darzulegen.

In dieses Kapitel gehört auch das Geflenne, das über die beschädigte Reimser Kathedrale jetzt angestimmt wird. Die Herren Kunstenthusiasten haben ja ganz recht, es ist fürchterlich, alte ehrwürdige Denkmäler der Vergangenheit mit diesen höchstmodernen Zerstörungsapparaten zu beschädigen oder gar zu vernichten. Kunstdenkmäler, die von barbarischeren Zeiten geschont wurden! Aber wo gleichzeitig das Leben von zehntausenden blühender Menschen vernichtet, wo mit jedem Einzelnen eine Welt mit allen ihren Werten zugrunde geht und die Zeugungskraft, die der Zukunft Lebewesen beschert hätte, ist dieses Kokettieren mit der Hochachtung vor der Kultur, das sich auf Bauwerke beschränkt, geradezu lächerlich. Ich habe dies einmal Prof. Eberlein gegenüber betont, der während des Balkankriegs eine Konvention zum Schutz der unersetzlichen Werke der Kunst und Wissenschaft forderte. (Sieh «Friedens-Warte» 1913, S. 111, «Ein Künstler gegen den Krieg».) Ich wies darin auf Art. 27 des Haager Abkommens für den Landkrieg hin, der ohnehin die Schädigung derartiger Bauwerke «so viel als möglich» zu verhüten empfiehlt und fuhr fort: «Das Kunstbewusstsein unserer Künstler, denen die Erhaltung der Steine über alles geht, kann sich also beruhigen. Wenn sie bei diesem entsetzlichen Krieg, wo Frauen, Greise und Kinder in der rohesten Weise niedergemetzelt wurden, die Berichterstattung von Lebendigbegrabenen und Verbrannten, von Geschändeten und Verstümmelten meldet, von Cholerakranken, die mit den Leichen zusammen aus dem fahrenden Eisenbahnzuge auf den Bahndamm geworfen wurden, von Tausenden, die von der Cholera und dem Typhus hinweggerafft, von Zehntausenden, die zu Krüppeln geschossen wurden oder unter entsetzlichen Qualen, unter der genialen Wirkung der Maschinengewehre, ihr Leben aushauchten, wenn sie da an nichts anderes zu denken haben, als an die Erhaltung der geschichtlichen Denkmäler, so zeigt dies nur, wie weltfremd sie dem grössten Problem unserer Zeit gegenüberstehen, und wie sie vor lauter Kunstinteresse das Interesse für die Menschheit verloren haben.»

Es werden ganz andere Werte als diese Kunstdenkmäler beschädigt. So das prachtvoll in die Höhe geführte Werk der internationalen Kooperation. Die Patrioten werden alles daran setzen, auch nach dem Krieg, es zu hemmen, und zu stören. Da hat Professor Schwalbe — derselbe, der in der Bewegung für den Verzicht deutscher Gelehrter auf englische Ehrungen durch wissenschaftliche Institute die Führung übernommen hat — in der «Medizin. Wochenschrift» den Vorschlag gemacht, dass die Vorbereitungen für den für 1917 nach München einberufenen internationalen medizinischen Kongress eingestellt werden sollen, «weil bis dahin die Gefühle gegenseitiger Erbitterung noch nicht weit genug verschwunden sein werden, um eine Zusammenkunft von Angehörigen der Nationen, die sich jetzt mit Vernichtung bedrohen, zu ermöglichen und in Ruhe die üblichen Begrüssungsreden von der völkerverbindenden Kraft der Wissenschaft über sich ergehen zu lassen». So sehen also die Aussichten für die Fortführung der Kulturarbeit nach dem Kriege aus?! Warten soll man damit, bis bei allen Gruppen die Erbitterung geschwunden sein wird? Das könnte lange dauern. Gerade von der ununterbrochenen Fortführung der internationalen Arbeiten erwarten wir die Überwindung der Verbitterung. Wie stellt sich Prof. Schwalbe das überhaupt vor. Wir müssen doch leben, und gerade so wie wir trotz der Erbitterung unser Getreide und unsere Baumwolle international werden austauschen müssen, werden wir auch auf dem Gebiete der Wissenschaft und auf allen anderen Gebieten, die internationale Zusammenarbeit sofort wieder aufnehmen müssen. Der Vorschlag des Prof. Schwalbe ist übrigens vom patriotischen Gesichtspunkt höchst unklug. Die Gegner Deutschlands werden sich ihn zu Nutze machen und werden die Zusammenarbeit im Verein mit den Neutralen weiter führen. Sie wird ohne Deutschland und vielleicht auch ohne Österreich-Ungarn vor sich gehen, sicherlich nicht im Interesse der beiden sich ausschliessenden Staaten. Die völkerverbindende Kraft der Wissenschaft wird schliesslich über ihre Verneiner siegen. Also Achtung!

Die Anhänger des Ewig-Gestrigen, der Gewalt, des Militarismus fangen überhaupt schon in unheimlicher Weise an, sich zu regen und die Gestalt der Zukunft in Konturen abzustecken. So Fritjof Nansen in einem in Christiania gehaltenen Vortrag, worin er für sein Vaterland die allgemeine Wehrpflicht forderte und eine Ära neuer Kriege in Aussicht stellte. «Die Abrüstung ist ein leeres Geschwätz» und «Schluss mit der Politik der Friedensflöten». «Wir verlangen eine Rüstung so stark wie möglich, für Heer und Flotte, damit wir nicht unterlegen seien in dem Kampfe, den wir vielleicht aufnehmen müssen».

Wenn diese Tonart Recht behalten soll, dann sei Gott dem armen Europa gnädig. Dann blutet es jetzt umsonst. Wenn dieser Krieg zu nichts anderem führen soll als zu weiterem Wettrüsten und weiterer Rivalität, zu einer Stärkung des Militarismus, dann ist dieser Erdteil dem Tode verfallen. Nein, diese Männer dürfen nicht Recht behalten. Sie müssen bald zum Schweigen gebracht werden. Zum Glück gibt es schon andere Stimmen, die für eine andere Zukunft eintreten. Die italienischen Sozialisten, die sich vorgestern für eine Politik der Neutralität für Italien aussprachen, haben sich und Italien die Aufgabe gestellt, «am Tage des Friedens die Grundsätze zu verkünden, die die Grundlagen der Staatengesellschaft bilden sollen, nämlich Beschränkung der Rüstungen, Anrufung der Volksabstimmung und schiedsrichterliche Entscheidung.» Ebenso äusserte sich die Indenpendent Labour Party in England.

Es kann nichts anderes kommen als eine Regenerierung der Welt durch ein europäisches Staatensystem. Die Rückwärtser und Hassapostel werden ihren Untergang finden.