Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 22. Juli.

In Russland schreitet die Offensive der Zentralmächte vorwärts. Es bereitet sich dort eine grosse Aktion vor. Auf Kongresspolen und die baltischen Provinzen scheint es abgesehen zu sein. Was dann? Die Alliierten haben nirgends Erfolge aufzuweisen. Sie vertrösten sich damit, dass sie eine lange Dauer des Kriegs in Aussicht stellen, wo ihnen der Endsieg zufallen müsse. Zwei offizielle Äusserungen der letzten Zeit sprechen davon. Churchill sagte in einem im «Rotterdamschen Courant» veröffentlichten Interview: «Die Alliierten müssen siegen. Wenn nicht in diesem Jahr so im nächsten». Und im gestrigen «Bund» befindet sich eine «von massgebender russischer Quelle» herrührende Notiz (anscheinend von der russischen Gesandtschaft in Bern) in der gesagt wird, man solle sich durch die deutschen Erfolge in Polen nicht verwirren lassen. Der Sieg Russlands würde erreicht werden durch die ihm zu Gebote stehenden fast unerschöpflichen Kräfte, sollte sich auch der Krieg noch auf Jahre hinausziehen». Auf Jahre?! Man muss ja solche Worte nicht gerade ernsthaft nehmen. Wie die Dinge aber liegen, ist es nicht ausgeschlossen, dass der Krieg wirklich noch ein Jahr und länger dauern kann. Wenn, was man für unmöglich hielt, Europa einen derartigen Krieg ein Jahr lang ertragen konnte, ist es auch nicht ausgeschlossen, dass es ihn auch drei Jahre erträgt. Das Wie ist eine andre Frage. Wie dieses Europa dann aussehen wird, ob es nicht fürchterlicher vernichtet sein wird als Deutschland nach dem dreissigjährigen Krieg, ob es nicht ein Jahrhundert der Restauration benötigen wird und ob es sich überhaupt jemals noch aufraffen kann und der Weltmittelpunkt nicht in Pan-Amerika ersteht, das sind Sorgen, über die man jetzt lieber nicht denken mag.

Gleich nach Beginn des Kriegs habe ich auf die sanguinische Bemerkung einzelner Personen dessen Ende scherzhaft für den 7. Oktober 1917 in Aussicht gestellt. Sollte dieses Witzwort zur Wahrheit werden?