Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. Oktober.

Die Verbündeten haben Goerz wieder beseht. «Vom Kastell wehen nach einem Jahr feindlicher Herrschaft wieder wie seit langen Jahrhunderten unsre Fahnen.»

Da las ich gestern in der Rede, die Viktor Adler auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie gehalten hat, Folgendes:

«Die Offensiven, wo sie auch stattfinden, im Westen, im Osten oder im Süden, was immer ihr Ausgang sei, ob siegreich für den einen Teil oder siegreich für den andern Teil, alle diese Offensiven bringen uns dem Frieden nicht näher, das hat der bisherige Verlauf genügend klargestellt. Jede einzelne Offensive, an welcher Front sie auch entwickelt wird, und von welcher Seite, kostet Tausende und Hundefttausende von Opfern, ungemessene Opfer und bringt keine sichtbaren Erfolge.»

Dem Militarismus ist es aber darum zu tun, dass «Fahnen wehen».

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Ich fürchte, diese Siege da unten werden den jungen Pazifistenfrühling in Österreich-Ungarn wieder in rauhen Winter verwandeln. Der Militarismus wird wieder Luft bekommen und mit blauem Dunst die Hirne des gequälten Volks betäuben.

Eines wird die österr.-deutsche Offensive in Italien sicher bewirken. Sie wird den Jusquauboutismus, der dort im Sterben lag, gesund und stark machen. Wenn die Entrepreneure der Offensive mit einer Revolution in Italien gerechnet haben, so haben sie sicher das untauglichste Mittel gewählt, um sie zu unterstüben. Die Offensive einigt dort unten alle Parteien im patriotischen Sinn.

Die Rede Adlers am Parteitag war hochbedeutend. Bemerkenswert ist, was er zur Schuldfrage sagen und was die «Arbeiter-Zeitung» (25. X.) darüber drucken durfte. Die Stelle lautet:

«Wie tiefliegend auch die Ursachen dieses Weltkrieges und wie tief verknüpft sie auch mit unserm ganzen politischen und Wirtschaftssystem sind, wie sehr auch Kapitalismus und Imperialismus zu diesem Krieg führen mussten, so sage ich doch: Wer einen vielleicht ausweichlichen Brand angezündet hat, der trägt die größte Schuld! Wir werden es niemals vergessen und nie vergessen lassen und nicht in den Hintergrund stellen und nicht verhüllen lassen, dass die Fackel, die in den leider bestehenden Scheiterhaufen geworfen wurde, die die Explosion bewirkt hat, die serbische Note war.»

Das ist die Ansicht, die ich schon früher in diesen Blättern ausgedrückt habe, als ich das Bild brauchte:

Wer in einem mit Gas geschwängerten Raum das Streichholz anzündet, der bewirkt die Explosion.

Dass dies nun offen in Wien gesagt werden darf, ist erfreulich.

Die Ansicht Adlers unterscheidet sich auch von den Ansichten einzelner seiner Parteigenossen in Österreich und Vieler in Deutschland, die die Meinung vertreten, dass die russische Mobilisierung die Ursache des Kriegs gewesen. Ohne das Ultimatum an Serbien, ohne dessen kurze Befristung, ohne die Intransigenz der Mittelmächte gegenüber allen Beilegungsversuchen hätte es keine russische Mobilisierung gegeben.