Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 9. September.

Es braust ein Ruf . . . Allerdings nicht wie Schwertgeklirr und Wogenprall, etwa wie Harfenklang und Glockengeläute. Sie sind nicht mehr zu zählen, die Äußerungen der Staatsmänner, Diplomaten, Journalisten für die Forderungen des Pazifismus, für Schiedsgericht, Abrüstung, Völkerbund. Es mögen Heuchler unter ihnen sein, Konjunkturjäger, aber zweifellos: auch diese folgen einem innern Zwang, dem instinktiven Gefühl, dass hinter jenen Ideen der Ausweg, die Rettung liegt. Sicher sind auch Ehrliche unter ihnen, Ehrliche, denen die Erkenntnis aufgegangen, und die durch die Katastrophe erst sehen gelernt haben. Doch zeigt keiner Spuren von Schamgefühl oder Reue. Sie müssten sich doch alle sagen: Da haben wir jahrzehntelang die Verkünder der pazifistischen Lehre verlacht, uns mit einem überlegenen Lächeln über ihr uns drollig erscheinendes Treiben hinweggesetzt, überzeugt von der Höhe und Bedeutung unserer realpolitischen Großzügigkeit, und nun erkennen wir, dass wir uns geirrt haben, dass jene recht hatten und unsere Kurzsichtigkeit und Gleichgültigkeit allein daran schuld ist an dem großen Versäumnis, dessen Folge dieser schwer verhängnisvolle Krieg geworden. Sie denken gar nicht daran, sich dies zu sagen oder in ihrem ungestümen Eifer für die für sie so neue Wahrheit, der Versäumnisse von gestern sich zu erinnern.

Früher einmal habe ich unsere Stellung unseren Gegnern, den Höhnern, Lachern und Skeptikern gegenüber verglichen der Situation von Wanderern, die sich auf einem Bergesgipfel befinden und das Aufgehen der Sonne bewundern, während die unten im Tal, die die Sonne noch nicht sehen, die Wahrnehmung bestreiten. Für sie ist es Nacht. Nun ist die Sonne höher gestiegen, und auch die im Tal erkennen jetzt, dass es Tag wird.

Graf Czernin veröffentlicht in der «Neuen Freien Presse» einen Artikel über «Schiedsgericht und Abrüstung». Er zitiert Solf und Grey und verkündet den Lesern jenes Blattes, dass in internationalen Abmachungen die Garantien zur Vermeidung künftiger Kriege zu suchen seien. Wenn das die Suttner erlebt hätte, die in jenem Blatt nur an hohen Sonn- und Feiertagen als origineller Aufputs den Lesern vorgesetzt wurde. Wenn das die Suttner erlebt hätte, dass jetzt die hohen Würdenträger des Staates die Fackel ergreifen, die sie ängstlich gewahrt und in der Finsternis früherer Tage emporgehalten hat.

Der Pazifismus war Rettung, aber man hat sich den Rufen gegenüber taub gestellt. Jetzt, wo es brennt, sieht man es ein. Die ganze Welt ist erfüllt von uns, von unserem Geist, von unsrer Arbeit. Sie müssen uns folgen, nachdem ihre Theorien von Macht und Gewalt bankrott gemacht haben.

Wahrhaftig, es ist eine Genugtuung, das zu erleben, aber — eine traurige Genugtuung.