Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. Oktober.

Die Abstumpfung gegen das Elend, das ist das Fürchterliche. Wir merken gar nicht, wie wir immer tiefer und tiefer sinken. Früher erschrak man noch, wenn man eine Meldung las wie die folgende: «Eines unserer Unterseeboote hat im Mittelmeer am 4. Oktober den französischen Hilfskreuzer «Gallia» durch einen Torpedoschuss versenkt. Von den an Bord der ,Gallia’ befindlichen serbischen und französischen Truppen, die sich auf dem Weg nach Saloniki befanden, sind etwa tausend Mann umgekommen. Das Schiff sank innerhalb 15 Minuten. Der Chef des Admiralstabs der Marine.»

Der Stil der Meldung ist triumphierend. Er erinnert etwas an die Kunstpausen gewisser Redner, wenn sie nach stark erhobener Stimme plötzlich stocken, das «Bravo» der Menge gleichsam herausziehend. — Bravo! — Und man denkt kaum mehr an dieses tausendfache, zappelnde Leben, das hier durch einen Torpedoschuss (wie billig!) unschuldig vernichtet wurde. Unschuldig! Denn die armen Teufel, die ersäuft wurden, haben nichts gewollt und nichts getan und wissen nicht warum das alles. Und wir begreifen das Entsetzliche gar nicht mehr. — In dreihundert Jahren hat die spanische Inquisition, die als etwas Entsetzliches gilt, 30,000 Opfer vernichtet. Wie wird man später diesen mit allen Fortschritten der Technik geführten Ausrottungskrieg beurteilen? - Wahnsinn wird kaum mehr die gebührende Erklärung bieten.

Wahnsinn? Gestern war ein junger deutscher Arzt bei mir, der die Erscheinungen der Kriegspsychose wissenschaftlich in einem Buch behandelt. Er kommt zu dem Schluss: paranoia magna.

Der Symptome gibt es genug. Da blicke ich mir seit gestern eine Illustration an, die furchtbar traurig ist. Ein Leichenzug in Péronne. Geistliche, junge Mädchen in weissen Schleiern, eine Reihe von Leichenwagen, eine lange Kette Leidtragender. An der Seite ein deutscher Feldgendarm. Unter dem Bild die Legende: «Opfer ihrer eigenen Landsleute feierliche Beisetzung von durch französische Fliegerbomben getöteten Kindern und Frauen in Péronne». Was soll diese heuchlerische Entrüstung?! Soll es die Gegner als Menschenfresser zeigen, die nicht davor zurückschrecken, ihre eigenen Landsleute zu zerfetzen, als Besinnungslose, als Verräter? Sollen solche Bilder oder die statistischen Angaben in den französischen Blättern die Einwohner zur Empörung bringen gegen die eigene Regierung, Armee oder ihre eigenen Landsleute? Sieht man denn nicht ein, dass kein Franzose, der das traurige Bild besieht, anerkennen wird, dass es sich hier um Opfer handelt, die durch Franzosen bewirkt wurden? Er wird die Ursache weiter suchen und diejenigen als die Schuldigen erkennen, die die Veranlassung zu jener Fliegertätigkeit gaben. Und sein Hass wird zum Siedepunkt steigen, wenn er sieht, dass jene Veranlasser eine Situation geschaffen haben, die die Franzosen zwingt, auch ihre eigenen Landsleute zu vernichten, wenn sie den Feind wirksam bekämpfen wollen. Und würden die Deutschen denn anders handeln? Wenn morgen Zeppelinbomben in London oder Bukarest oder Riga Deutsche erschlagen würden, würde man dann aufhören, diese Raids weiter auszuführen? — Hand aufs Herz! Würde man es tun? Darum ist es eine Heuchelei mit diesen Bildern, diesen Zahlen, die nur die Entschuldigung findet in der allgemeinen Verrücktheit und in dem Mangel an psychologischer Beurteilungsfähigkeit.

Wenn man nur die Stelle von Kriegspsychologen schaffen wollte, meinetwegen in Uniform, die ihre Einflüsse hinter der Front geltend machen, die wenigstens die offiziellen und offiziösen Auslassungen zensurieren sollten. Sie wirken so fürchterlich, diese Dementis, die immer nur vom Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf nicht mehr Nachdenkende aufgestellt, immer mit dem merkbar sichern Bewusstsein geprägt werden, dass Kritik unpatriotisch, demnach ausgeschlossen sei. So las ich vor einigen Tagen in der «Kölnischen Zeitung» einen Protest gegen die Mitteilung, dass man in Belgien Zwangsarbeit verlange. Keine Idee davon, besagt das Dementi. Tausende haben sich freiwillig gemeldet und haben eingewilligt, nach Deutschland zu gehen, um dort reichen Lohn zu ernten. Andere, Schmarotzer, die der öffentlichen Fürsorge zur Last fallen, die die ihnen angebotene Arbeit nicht annehmen wollen, werden allerdings zwangsweise dazu verhalten. Nun soll also alles beruhigt sein. Es ist eben arbeitsscheues Gesindel, das hier die Zuchtrute der Gewalt zu fühlen bekommt. Also: alles in bester Ordnung. Der uniformierte Kriegspsychologie hätte hier mit seinem dicksten Rotstift dreinfahren und das Dementi als gefährlich konfiszieren müssen. Den Verfasser hätte er belehren können: Die Gegner werden an deine Schmarotzer und Arbeitsscheuen nicht glauben. Selbst wenn sie zugeben sollten, dass einige wirklich darunter sich befinden, die andern werden ihnen ausgezeichnete Männer sein, Patrioten der edelsten Art, die lieber hungern als vom Feind Arbeit anzunehmen und die als Märtyrer gefeiert werden, wenn sie der Feind durch Zwang zur Arbeit führt. In ihren Augen wird der also verfahrende Feind nicht als der soziale Wohltäter erscheinen, als der ihn das Dementi hinstellen will, sondern als der harte Bedrücker patriotischer Männer. Der uniformierte Kriegspsychologe hätte die Frage stellen können, was wohl in Deutschland gedacht und gesagt worden wäre, wenn etwa von sozialem Geist erleuchtete Russen während der Besetzung Ostpreussens deutsche Arbeiter, die für den Feind nicht arbeiten wollten, als Schmarotzer bezeichnet und zur Zwangsarbeit unter der Knute veranlasst hätten. Mit wilder Empörung wäre man aufgefahren und hätte alle nur erdenkbaren Repressalien ergriffen. Darum — so hätte der uniformierte Kriegspsychologe seine Belehrung schliessen müssen — darf dieses Dementi nie erscheinen.

Und weil ich nun gerade bei Wahnsinn, Psychose und Psychologie bin: über die Greuel gegen Armenier dringen in Flugschriften entsetzliche Schilderungen auf uns ein. Diesmal Dokumente von Deutschen. So vom «Lehrerkollegium der deutschen Realschule in Aleppo». Die Greuel der Schlachtfelder sind nichts gegen diese haarsträubenden Schilderungen. Zu Tausenden lässt man die Armenier verhungern, am Ufer des Wassers liegend verdursten. «Über hundert Leichen Verhungerter trägt man täglich aus Aleppo heraus.» Viele werden vorher irrsinnig. Man massakriert 5000 auf einmal, man treibt 3000 Weiber und Kinder in tagelangen Märschen zum Euphrat und ersäuft sie dort. Jeder, der sich retten will, wird erschlagen. Die Männer stehen derweil an der Front. — Genug!

Aber der deutsche Hyper-Christ, der hier schon oft genug gebrandmarkte Pastor Traub, dieser Priester der Nächstenliebe, sagte in einer von Tausenden besuchten Versammlung in München am 18. September 1916 (siehe «München-Augsburger -Zeitung», Abend-Ausgabe vom 19. Oktober) folgendes:

«Wenn heute Propagandaschriften für Armenier verbreitet werden, so müssen wir uns doch sagen, dass Vaterlandstreue die Hauptsache ist, wir also, wenn die Armenier dieser Tugend nicht achteten, keine Ursache haben, uns für Armenien ins Zeug zu legen.»