Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 20. Juli.

Der «Vorwärts» veröffentlicht (14. Juli) einen Artikel über «Pazifismus und Sozialdemokratie». Er verwahrt sich zunächst, dass Sozialdemokraten, die die Auffassung vertreten, dass zur Grundlage einer künftigen Regelung der Beziehungen der Völker zueinander ein internationaler Rechtszustand geschaffen werden müsse, von andern Sozialdemokraten als «Pazifisten» verspottet werden.

Hier rächt sich die frühere Haltung der offiziellen Sozialdemokratie gegenüber dem Pazifismus, der ihr in ihrer Gesamtheit als eine sogenannte bürgerliche Bewegung lächerlich und verachtenswert erschien. Der «Vorwärts», der sich gegen die Verächter in den eigenen Reihen verwahrt, sagt dazu,

«dass es der Sozialdemokratie ehedem gar nicht eingefallen ist, die von den Pazifisten vertretenen Ideen selbst für utopisch und undurchführbar zu erklären. Alles was vom Pazifismus erstrebt wurde, die Rüstungseinschränkung, internationale Schiedsgerichte, der Ausbau des Völkerrechts ... lag durchaus auf der Linie dessen, was auch die Sozialdemokraten durchzusetzen suchten, wenn auch mit andern zuverlässigeren (?) Mitteln».

Das ist in der Hauptsache richtig, doch ist die Erkenntnis neu, und wurde vor dem Krieg seitens der Sozialdemokratie niemals angewandt. Wie oft habe ich betont, dass der Pazifismus an sich weder bürgerlich noch sozialistisch, sondern Wissenschaft ist, ein Zweig der Soziologie, dass es jedoch verschiedene Propagandaarten, Betätigungsmethoden der pazifistischen Erkenntnis in der politischen Praxis gebe. Erst hier beginne die Unterscheidung zwischen bürgerlich und sozialistisch. Dies nicht unterschieden zu haben, ist ein Fehler der bisherigen Sozialdemokratie gewesen. Denn es stimmt, dass der Pazifismus vor dem Krieg nur eine kleine Schar von Anhängern bildete, und die disziplinierten Massen der Sozialdemokratie ihm verschlossen waren infolge der Ächtung, die ihm die Partei zuteil werden liess. Wir hatten die Segeln aufgespannt, die offizielle Sozialdemokratie sperrte uns aber vom Wind ab.

Das rächte sich.

Es wird in Zukunft anders werden. Nicht nur weite bürgerliche Kreise werden die Lehren des Pazifismus als Richtlinien einer praktischen Politik aufnehmen, auch die Sozialdemokratie wird einsehen, dass die Lehre von der zwischenstaatlichen Organisation ebensowenig rein bürgerlich sein kann, wie etwa die Geburtshilfe oder Brückenbaukunde. Sie wird die pazifistischen Forderungen in ihr Programm aufnehmen und öffentlich vertreten. Wie sähe z.B. das Werk der interparlamentarischen Union, wie das Haager Werk aus, wenn die Sozialdemokratie nicht in verblendeter Weise Abstinenzpolitik getrieben hätte. Europa stünde heute anders da.

Sehr wahr und in der Offenheit des Zugeständnisses erfreulich, ist der Vorwärts-Artikel an folgender Stelle:

«... nachdem wir erlebt haben, wie wenig auch die internationale Sozialdemokratie in ihrer Mehrheit die erste ernstliche Belastungsprobe aushielt, geziemt es ehrlichen Sozialisten nicht mehr, pharisäisch über den rein platonischen und theoretischen Charakter des bürgerlichen Pazifismus den Stab zu brechen. Im Gegenteil verdient anerkannt zu werden, dass sich gerade unter diesen nicht sozialdemokratischen Pazifisten eine immerhin nicht ganz geringe Zahl von ehrlichen Männern gefunden hat, die ihren Idealen auch unter den Stürmen des Weltkriegs treu blieben und auch unter den schwierigsten Umständen den Gedanken der Völkeraussöhnung auf der Grundlage des internationalen Rechts zu propagieren suchten.. Ein Grund zu selbstgerechtem und hochmütigem Spott über den ,Pazifismus’ liegt also wahrhaftig nicht vor».