Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Oktober.

Der Tag des 29. Oktober war ein dies nefas für das deutsche Volk, ein denkwürdiger Tag einer stürmischen Reichstagssitzung. Man hätte wohl gern die Debatte über die sogenannte Schutzhaft im geheimen oder ganz geheimen Ausschuss vergraben, aber der Kessel war überheizt und der Dampf der Entrüstung zischte aus dem Sicherheitsventil des Reichstags heraus. «Wir alle», so sagte der Zentrumsabgeordnete Eehrenbach, «empfinden diesen Tag als einen ausserordentlich unglücklichen». Diesen Tag? — Nein! Die Möglichkeit, dass unter dem zum Himmel schreienden Blutgestank der erschlagenen Jugend, ein fast an hinterasiatische Despotien erinnerndes Willkürregiment tausende deutscher Männer und Frauen ohne weiteres auf Monate und Jahre der Freiheit beraubt, sie ausserdem wie Verbrecher behandeln darf, das ist als Unglück zu empfinden, denn es schlägt Ohrfeigen in das Antlitz des gramgebeugten Volks. Es ist das Unerhörteste, das jemals einem Volk geboten wurde, und die Schamröte steigt jedem Kulturmenschen empor, der die Schilderungen der Abgeordneten gelesen und die Art beschrieben fand, wie sich der beantwortende Staatssekretär dabei benahm. Die tosende Empörung des Reichstags, und dass selbst bis zu den Nationalliberalen Worte der Entrüstung gefunden wurden, ist einigermassen ein Trost. Wer wird es noch wagen von einer «grossen Zeit» zu faseln? So werden die eigenen Landeskinder behandelt! Wie soll man dann glauben, dass die Belgier, die Franzosen, die Serben und Polen voll Menschlichkeit und Edelmut behandelt wurden?

Das Ergebnis dieser Reichstagssitzung eröffnet eine traurige Perspektive für die Zukunft des deutschen Volkes. Man spielt 1813 und dessen Folgen.

St. schrieb mir gestern aus Berlin: «Wir erleben jetzt hier einen gewaltigen Umschwung.»

Wird sich dies nicht als Täuschung erweisen?