Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 28. Juli.

Nun begehen wir die Jahrestage jener historischen elf Tage während welcher das Unheil Europas entschieden wurde. Am 23. und 25. Juli wurde das famose «Ultimatum» überreicht und beantwortet, das den Stein ins Rollen brachte. Heute ist es ein Jahr her, dass Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte. Ein Jahr! Ich glaubte damals noch nicht an den Krieg. Hielt ihn immer noch für unmöglich, weil ich die Notwendigkeit einer Hineinziehung ganz Europas erkannt hatte, und dies mir als eine Friedensgarantie erschien. Den für September vorbereiteten Friedenskongress hatte ich jedoch am 28. Juli abgesagt. Es erschien mir ausgeschlossen, dass der Kongress nach jenen Aufregungen, selbst wenn es nicht zum Krieg kommen sollte, einen guten Verlauf hätte nehmen können. Schon waren Briefe bei mir eingelaufen, die energisch dagegen protestierten, dass der Friedenskongress in der Stadt stattfinden dürfe, aus der jenes Ultimatum hervorgegangen war. Den Kongress hatte ich aufgegeben; die Hoffnung auf die Erhaltung des Friedens nicht. — Es war nachmittags gegen fünf Uhr. Ich sass mit Schuster im Dom-Cafe, da kam die Extra-Ausgabe der «Wiener Zeitung» mit der Kriegserklärung.

«Da die königlich serbische Regierung die Note, welche ihr vom österreich-ungarischen Gesandten in Belgrad am 23. Juli 1914 übergeben worden war, nicht in befriedigender Weise beantwortet hat, so sieht sich die k.u.k. Regierung in die Notwendigkeit versetzt, selbst für die Wahrung ihrer Rechte und Interessen Sorge zu tragen und zu diesem Ende an die Gewalt der Waffen zu appellieren. Österreich-Ungarn betrachtet sich daher von diesem Augenblick an als im Kriegszustand mit Serbien befindlich».

Das stand mit grossen Lettern auf jenem Blatt. Ich werde mein Lebtag den Eindruck nicht vergessen, der sich meiner beim Durchlesen jener Zeilen bemächtigte. Ich sah die Schleuse geöffnet, aus der ein Meer von Blut sich über die Welt ergiessen werde, ich sah die Unsumme von Elend, die durch jene kalt höflichen Worte hervorgerufen wurden und den unsagbaren Jammer, den sie nach sich ziehen mussten. Dabei dachte ich nur an einen Krieg mit Serbien. Noch nicht an das Elend des Weltkriegs. Ich hoffte im Gegenteil auf den rettenden Einfluss Europas, das Wege und Mittel finden werde, trotz der erfolgten Kriegserklärung, dem Krieg Einhalt zu gebieten, ehe er begonnen. Von den Versuchen dieser Art, die tatsächlich stattfanden, und von denen ich erst später aus den diplomatischen Farbbüchern Kenntnis erhielt, hatte ich nur eine undeutliche Ahnung. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass die europäischen Staaten, die in diesen Konflikt hineingezogen werden müssten, nicht alles aufbieten würden, um nicht gezwungen zu sein, sich Serbiens wegen zu zerfleischen. Ich hoffte also auch noch nach der Kriegserklärung. Meine Hoffnung wurde bestärkt als mir tags darauf — am 29. Juli also — vom Ministerium des Äussern telephoniert wurde, dass die Frage, ob der Friedenskongress vertagt werden solle, bis Mitte August Zeit hätte, entschieden zu werden. Ich hatte schon tags vorher den Kongress abgesagt, ohne die Antwort auf meine, höflichkeitshalber an das Ministerium gerichtete Anfrage, abzuwarten, da ich die Zustimmung zu der Absage für selbstverständlich ansah. Meine Überraschung war ob der erhaltenen Auskunft nicht gering. Später konnte ich sie mir aus den, damals zwischen Österreich-Ungarn und Russland begonnenen direkten Unterhandlungen wohl erklären. Man glaubte also an jenem Tag in Wien noch, dass der Konflikt bis zum September beigelegt sei, und der Friedenskongress mit grossem Aplomb abgehalten werden könne. Nun ist ein Jahr darüber hinweggegangen. Die Zeit hat die österreichische Note auch noch nicht «in befriedigender Weise» beantwortet. Der Konflikt ist nichts weniger als gelöst durch das als geeignet erschienene Mittel des Kriegs, das man der Diskussion vorzog.

Die Frage, ob jenes Mittel wirklich geeignet war, um einen Konflikt zur Lösung zu bringen, dürfte wohl heute kaum mehr von einem vernünftigen Menschen bejaht werden. Auch von jenen nicht, die jetzt vor einem Jahr vor das Wiener Kriegsministerium zogen und Hurrah schrieen. Wie mag wohl jenen Strassenpatrioten, auf die man so stolz war, heute wohl zu Mute sein? Dieses Jahr hat vor allen Dingen Eines erwiesen und zur allgemeinen Erkenntnis gebracht, dass nämlich eine Diplomatie mit Gepflogenheiten und Gebräuchen, die der Zeit der Allongeperücken alle Ehre gemacht hätten, in dem Zeitalter der drahtlosen Telegraphie doch nicht mehr hineinpasst. Dieser Bankbruch jener Einrichtung, der die Obhut der Auswärtigen Angelegenheit des Staates anvertraut war, wäre das erfreulichste Ergebnis dieser Weltkatastrophe, wenn er nicht gleichzeitig auch die Beendigung des Kriegs verhindern würde. Die Unfähigkeit der Diplomatie ergab sich nicht nur aus dem Ausbruch des Weltkriegs, sondern zeigt sich auch heute in dessen Endlosigkeit. Hätte Europa nur einen einzigen überragenden Diplomaten, so hätte es auch bereits einen gangbaren Ausweg aus diesem Krieg gefunden. Statt dessen erfreut es sich einer Schar von Pygmäen, die vor dem Wort «Friedensschluss» eine heilige Scham empfinden, als hätten sie wirklich von dem Baume der Erkenntnis gegessen, war durchaus nicht der Fall ist.

Dieses Jahr des Kriegs wird für Europa lange als ein Trauerjahr gelten, als ein den Überlebenden geraubtes Jahr, als ein Jahr der Ermordung und Verstümmelung für Millionen andre. Alles, was gut ist im Menschenleben hat dieses Jahr vernichtet und zertreten. Sie mögen solange sie wollen, vom «Segen» des Kriegs und der «Grösse» der Zeit salbadern, diese Geisteskrüppel, die uns heute die Spässe des Zirkus und die Witzblätter ersetzen müssen, sie werden uns die Einsicht nicht hinwegwitzeln können, dass Arbeit und Liebe, dass das Glück der Familien, die Gesundheit des Leibes und des Geistes, die Sorglosigkeit der kommenden Geschlechter besudelt, vernichtet, zermalmt wurden, und dies in einem Umfang und mit einer Wucht, dass auf Jahrzehnte an ein Erholen und Überwinden nicht mehr gedacht werden kann. Und dies alles wirklich nur, «weil die königlich serbische Regierung die Note ... nicht in befriedigender Weise beantwortet hat?» — Wahrhaftig! Ich möchte jetzt kein Diplomat und nicht gezwungen sein, mich einer solchen Frage gegenüber zu befinden. «Nicht in befriedigender Weise!»

Der Blick in die Vergangenheit bietet uns soviel Schreckliches und Wahnsinniges, dass uns nichts übrig bleibt, als den Blick trostsuchend der Zukunft zuzuwenden. Sie soll uns all das ersetzen, was wir verloren, und auch den Verstand bringen, der bislang bei den Regelungen der Weltangelegenheiten gefehlt hat. Man hat im Verlauf dieses Kriegs gelernt, die Herstellung künstlicher Glieder so zu entwickeln, dass die Verstümmelten des Weltgemetzels viel besser daran sind als ihre unglücklichen Vorgänger aus frühem Kriegsveranstaltungen. Künstlichen Verstand zu erzeugen ist aber bisher noch Niemandem gelungen. Wem der natürliche fehlt, dessen Krüppeltum ist nicht zu erleichtern. Es bleibt daher nichts andres übrig, als die geistigen Krüppel von allen jenen Geschäften fernzuhalten, an deren Erfolg oder Misserfolg das Wohl und Wehe von Millionen abhängt. Zu jenen Stellen sollen künftighin nur solche Personen berufen werden, die einen durch keinen Unfall beschränkten Hirnvorrat einsetzen können. Das muss uns die Zukunft bringen. Dann wird auch dieser Krieg ein Ende finden. Wie lange noch?!