Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Oktober.

Spannung zwischen Deutschland und Norwegen. Norwegen hat gefordert, dass Unterseeboote in der Dreimeilenzone über Wasser fahren müssen, und hat noch andere, die Unterseeboote beschränkende Bedingungen gestellt. Die deutsche Regierung sieht das als eine unfreundliche Handlung an. Gestern wurde gemeldet, dass die norwegischen Häfen durch deutsche Unterseeboote blockiert werden. Erinnert man sich noch an den Anfang des Kriegs? Wo fing er nur an? — War es nicht zwischen Österreich-Ungarn und Serbien? — Bismarck, dem ich doch sonst nicht zustimme, hatte Recht als er sagte: Man weiss wohl, wo ein Krieg anfängt, aber nie wo er aufhört.

Das rumänische Trauerspiel nimmt seinen Fortgang. An eine Rettung scheinen, nach Asquith’ gestrigem Ausspruch, die Ententestaaten selbst nicht mehr zu denken. Das arme rumänische Volk, das von einer blinden und verblendeten Regierung auf die Schlachtbank eines modernen Kriegs geführt wurde, ist zu bedauern. Welcher Wohlstand und wieviele Leben wurden hier in wenigen Wochen gründlich vernichtet.

Und Österreich? Das Ministerium Körber ist ein Lichtblick. Körber ist ein moderner Mensch, von dem etwas zu hoffen ist. Er hat am 7. September 1903 im Plenarsaal des österreichischen Abgeordnetenhauses die XL Interparlamentarische Konferenz eröffnet. Damals legte er dar, dass Kriege, die nur auf Eroberung fremder Länder abzielen, in unserer Zeit nicht mehr gutgeheissen werden. Der Ehrgeiz eines Einzelnen sei für die Frage von Krieg und Frieden nicht mehr massgebend, dafür ist die Ehre des ganzen Volkes zur Saite geworden, die man nicht berühren darf, ohne alle Leidenschaften zu entfachen. Höchste Aufgabe des Staatsmannes müsste es sein, nicht nur die Ehre des eigenen Stammes zu hüten, sondern auch Acht zu haben, nicht an der Ehre eines andern Volks zu rühren.

«Wir sehen», so fuhr er fort, «dass viele Güter, die noch das Besitztum eines einzelnen Volkes zu sein scheinen, das Besitztum der ganzen Menschheit geworden sind. Die Reihe der Kriegsanlässe vermindert sich immer, und es ist ein Charakteristikum unserer Zeit, dass die kleinen Staaten in ihrer Existenz niemals so gesichert waren wie jetzt. Sie bilden nicht nur die Puffer, die den Zusammenstoss der grossen Mächte verhindern, in viel höherem Grade ist es die Achtung vor ihrer Selbständigkeit seitens der grossen Mächte, die sie schützt. In unseren Tagen bedeutet die Zeit des Friedens eine Zeit der Arbeit und der Wirtschaft und rasch jagen sich die Werke und die Wünsche. Das kann der Krieg nicht mehr leisten, was wir von dem Laufe der Zeit fordern, und deshalb bringen wir die grössten Opfer, um ihn zu verhüten. Wir brauchen den Frieden für die auf Sturmesflügeln dahineilende menschliche Kultur.»

Viel Wasser ist ja seit jener Rede die Donau hinuntergelaufen. Manche Ideen haben sich seitdem gewandelt. Aber ein Staatsmann, der einmal, in verantwortlicher Stellung, so vernünftig gesprochen, Krieg und Frieden so richtig eingeschätzt hat, verdient in dieser ernsten Zeit Vertrauen. Mag er heute über Manches anders denken, Verständnis für die Aufgaben der Zeit und für die Notwendigkeiten einer neuen Friedensordnung nach dem Krieg dürfte er haben.

Die deutsche Presse hat die Rede Greys abfällig glossiert. Sie fühlte sich durch Greys Hervorhebung der Vorgeschichte so vor den Kopf gestossen, dass sie den Vorschlag für die künftige Gestaltung eines Dauerfriedens, der darin enthalten war, ganz übersah. Und doch ist das das Wichtigste in der Rede. Diese amerikanische «League to enforce Peace» gewinnt an Boden in der Welt. Die Zentralmächte sollten ihr unverzüglich zustimmen. Das würde den Eintritt in Friedensverhandlungen erleichtern und für die Zukunft bewirken, dass sich diese Liga, die sicher zustande kommen wird, nicht gegen die Zentralmächte richtet, sondern durch ihre Mitwirkung wirklich zum Ausgangspunkt einer neuen Ära wird.