Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. Dezember.

Die heiligen drei Könige aus Norderland scheinen sich nicht mit dem Versuch einer Vermittlung abgegeben zu haben. Vielmehr hat es den Anschein, als ob sich in Form eines skandinavischen Bundes eine neue Militärmacht in Europa entwickeln sollte. In Deutschland tut man so, als ob dieses Bündnis gegen England gerichtet sei. Dies dürfte eine neue Enttäuschung werden. Dem skandinavischen Bund ist jedenfalls vorgearbeitet worden durch die skandinavischen interparlamentarischen Konferenzen. Der Pazifismus ist wiederholt für eine Vereinigung der neutralen Kleinstaaten eingetreten. Unter der Not der Zeit ist vielleicht hier der Anfang gemacht worden. Vielleicht aber kommt es anders, und ein neuer Antrieb im Rüstungsgetriebe ist entstanden. Wenn die Sven Hedin und Frithjof Nansen bei diesem Bunde Paten gestanden haben, ist nichts Gutes davon zu erwarten.

* * *

Für den 6. Januar hat nun Lafontaine die Sitzung des Rates des Berner Bureaus einberufen. Schlechtes Datum.

* * *

Wie weit die Roheit und Verbohrtheit geht, mag untenstehender, der Wiener «Arbeiter-Zeitung» (17. Dezember) entnommener Ausschnitt bekunden, den das Blatt dem klerikalen Wiener «Weltblatt» entnahm. Dort heisst es:

«Unsere Leute verstehen es, sich’s auch im Schützengraben recht gemütlich einzurichten, ja sie wissen sich sogar die Zeit mit Kartenspiel zu vertreiben, wenn eine Kampfpause eintritt. Wenigstens wird in einem Feldpostbrief von den Bozener Landesschützen folgende amüsante Episode erzählt: Drei Landesschützen lagen in einem Schützengraben nebeneinander und spielten Hazard. Jeder hatte zwanzig Heller einbezahlt. Der erste Russe, der sich zeigt, wird beschossen, der erste, der ihn trifft, bekommt die sechzig Heller. Es dauerte eine Viertelstunde, da tauchte drüben auf etwa zweihundertfünfzig Schritt — stellenweise lagen die Russen auf achtzig Meter gegenüber — ein Russe auf. Der Schütze, der die «Vorderhand» hatte, legte an, schoss, traf und strich schmunzelnd die sechzig Heller ein. Die munteren Kriegshazardspieler waren die Unterjäger Riedmueller, Wagner und Habitzl (der Letztgenannte gewann den Preis).»

Dazu schreibt die «Arbeiter-Zeitung»:

«Hier hat der Zensor dem ,Weltblatt' ein paar Zeilen gestrichen. Unter dem weissen Fleck steht noch folgendes:

,Unser Titelbild stellt die originelle Feldszene dar, bei der ein getroffener Russe mit 60 Heller bewertet wurde. Kartenspiel im Pulverdampf — das ist wohl der Gipfel der Gemütlichkeit!’ —

Also eine Tat, die eine Gemütsroheit sondergleichen verrät, findet das christliche Blatt unterhaltlich, gemütlich, originell, der Verherrlichung in Wort und Bild würdig. Wirklich zeigt uns das Titelbild des Weltblattes, wie sich der eine von den Hazardspielern die sechzig Heller verdient. Unter dem Bild steht zu lesen: Für den ersten getroffenen Russen sechzig Heller. Hazardspiel im Schützengraben. Also nicht nur der Wunsch, dass alle Russen hingemacht werden sollen, gilt unseren christlichen Blättern als rühmenswert und vor allem als ein Beweis christlicher Gesinnung, sie finden es auch herrlich, wenn das Hinmachen als Hetz, als Ramasuri betrieben wird. Das muss man sich merken.»

Wann werden wir endlich aufhören, uns über das Barbarentum der andern zu entrüsten?

Wir sind ja alle Barbaren. Eine dünne Schicht in allen Ländern ist der Barbarei entwachsen. Die übergrosse Masse steckt noch in der Roheit drin, die lediglich durch das Strafgesetzbuch zurückgehalten wird. Hören diese Fesseln durch den Krieg (der ja auch nichts anderes ist als der Beweis der vorhandenen Barbarei) auf, wird die bislang gebundene Roheit frei und betätigt sich ungebunden, unter dem Vorwand des Patriotismus, als Tugend.

Ich lese bei Naumann (Kriegschronik 15. Dezember): «Die königliche Akademie von Madrid beantwortete, wie man jetzt erfährt, eine Aufforderung zum Protest gegen die deutsche Beschädigung der Kathedrale von Reims mit dem Hinweis, dass die Kathedrale von Gerona im Jahre 1808 (!) von den französischen Truppen geschändet und beraubt worden sei.»

Es wird mich nicht wundern, wenn ich diese Tatsache in Schriften deutscher Intellektueller zur Verteidigung gegen französische Angriffe auf Ereignisse aus dem jetzigen Krieg herangezogen finden werde. Der Krieg hat einen alten Stammbaum und eine durch die Zeit nicht erschütterte Überlieferung. Er beruft sich auf Geschehnisse, die weit zurückliegen, weil sein Geist und sein Grundzug durch die Jahrhunderte nicht berührt worden ist. Selbst ein Anachronismus in unserer Zeit, begeht er niemals einen solchen, wenn er sich nur treu bleibt. Nur wir, die wir ausserhalb seiner Sphäre stehen, finden dieses Zurückgreifen auf Geschehnisse, die ein Jahrhundert zurückliegen, etwas grotesk. Uns drängt sich eben der Unterschied auf, den das Leben, die Ideen, die Einrichtungen von 1808 bis 1914 erfahren haben. Dies hindert uns, solche Vergleiche als gültig anzuerkennen. Wenn man aber liest, dass alldeutsche Vereine Belgien und Nordfrankreich als «urdeutschen Kulturboden» einfordern, «weil schon im vierten und fünften Jahrhundert germanische Scharen ihn bevölkerten» (aus einer Kundgebung des Deutschen Sprachvereins), so wird man an der durch den Krieg gestörten Folgerichtigkeit des menschlichen Denkens irre.