Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. November.

Die Nachrichten und die Zeitungen, die ich aus Wien erhalte, sind nicht so ermutigend, dass ich an eine baldige Rückkehr nach Wien denken möchte. Für Österreich ist das alles schwerer zu ertragen als für Deutschland. Es fehlt dort das nationale Bewusstsein, die nationale Geschlossenheit, der Glaube an eine Zukunft, Momente, die das Kriegselend leichter ertragbar machen. Vor allem aber fehlt dort der höhere Wohlstand Deutschlands, die geordneten Verhältnisse, die die Rücken und die Nerven stärken. In Österreich ist in normalen Zeiten schon alles so geplagt, armselig, dürftig, dass die Schläge des Krieges den entsetzlichsten Jammer hinzufügen. Dieses arme, in seinem Kern so gute Volk, wird durch diesen Krieg zur Verzweiflung gebracht. Es fehlen ihm alle Voraussetzungen, die es aufrechterhalten, es über die Not hinwegtäuschen können. Es ist jammervolles Bluten, und keiner weiss wofür. Dazu kommt diese widerwärtige, heuchlerische Presse, die versucht, all den Jammer mit Phrasen von Grösse, Bravour und Heldentum zu übertünchen, ohne dass es ihr natürlich gelingt. Nicht einmal zu einem rechtschaffenen Hass weiss sich diese Presse aufzuraffen, es bleibt im Personenkult stecken und in der Pflege einer widerlichen Sorte der Auch-Dabeis, denen der Krieg gerade gut genug ist, um zur Nennung ihres Namens in der Zeitung benützt zu werden.

So entgeht es dem aufmerksamen Beobachter nicht, dass trotz aller Hurrahstimmung in den Zeitungen, trotz aller selbstbewussten und mutigen Haltung der Bevölkerung, bei dem Ausbleiben aller Entscheidungen und den steigenden horrenden Verlusten, der Mut zu sinken beginnt, und die Geduld verloren geht. Da die Regierungen aber ohne Entscheidungen, ohne Vorteile, die die bisherigen Verluste zu rechtfertigen suchen, kein Ende werden machen wollen, ist eine beträchtliche Steigerung des Elends zu erwarten, eine Zunahme der verzweifelten Stimmung. Der Menschenfreund, der all dies kommen sieht, blickt bange in die Zukunft und trauert darob, dass all dies kommen musste, wo es so garnicht notwendig war. Nicht notwendig! Mit etwas mehr Vernunft, mit etwas mehr Willen zum Frieden wäre die Welt vor dieser argen Zerstörung bewahrt geblieben. So hat man uns die Welt für die Dauer unseres Lebens besudelt. Nur die eine Hoffnung hält uns aufrecht, dass dieses Riesenelend eine so mächtige Reaktion auslösen wird, dass nunmehr dem System der Anarchie ein Ende gemacht werden muss. Vielleicht war dann dieser schwere Schlag notwendig, um die Kraft für den Aufbau in einer neuen Welt auszulösen.