Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 13. Juni.

Die deutschen Mehrheitssozialisten haben am 4. und am 6. Juni in Stockholm ihre Erklärungen abgegeben. Dabei ist die Schuldfrage erörtert worden. Scheidemann bezeichnete die Untersuchung darüber nicht als Aufgabe der Konferenz und verstieg sich zu der Behauptung, dass keiner der Konferenzteilnehmer mehr am Leben sein werde, bis die Schuldfrage «restlos und einwandfrei» aufgeklärt sein werde. Das zeugt doch von einer etwas übertriebenen und in ihrer Übertreibung bedenklichen Gründlichkeit. Sicher werden spätere Veröffentlichungen noch manchen interessanten Beitrag zu den bedenklichen Vorgängen bringen, es wird noch manches Mosaiksteinchen das Bild der Vorgänge farbenreicher gestalten, aber deswegen zu behaupten, dass wir jetzt gar nichts wissen können, ist töricht.

In der darauffolgenden Diskussion wurde die Ansicht vertreten, dass die deutsche Regierung die Schuld am Krieg trüge und die deutschen Sozialdemokraten daher mitschuldig seien. Darauf erwiderte der Abgeordnete David. Er bestritt die Schuld Deutschlands, sprach von den «Einkreisungsabsichten» der Entente, von ihrer aggressiven, auf gewaltsame Eroberung und Aufteilung gerichteten Politik und beschuldigte sie, die Lunte an das Pulverfass gelegt zu haben durch das Attentat von Sarajewo, «das von Belgrad und Petersburg aus inspiriert war.» Die Petersburger Kriegspartei sei es gewesen, die durch ihre militärische Maßnahmen gegen Deutschland den Krieg erzwang.

Man kennt den Text und die Melodie dieser Darstellung und muss nur sagen, dass seinem Genossen David gegenüber Scheidemann recht hat, wenn er die Schuldfrage als noch nicht «restlos und einwandfrei» aufgeklärt erachtet. Der Gedanke, die Schuldfrage bei den Friedenserörterungen außer acht zu lassen, ist ja sehr verlockend. Die Erörterungen darüber müssen den Frieden hemmen; aber leider ist der einzig wünschenswerte Friede, jener, der die Sicherheit gegen künftige Kriege gewährt, der den unerträglichen Zustand der zwischenstaatlichen Anarchie beseitigt, kaum erreichbar, ohne dass mutvoll und entschlossen der Finger auf die offene Wunde gelegt wird.

Eine Note Wilsons an die russische Regierung, worin er abermals die amerikanischen Kriegsziele darlegt, ist jetzt veröffentlicht worden. Darin wird noch einmal verkündet:

«Die Vereinigten Staaten suchen keinerlei materiellen Gewinn und streben nach keiner Gebietserweiterung. Sie kämpfen nicht um irgendeines Vorteils willen, und nicht um irgendein persönliches, eigennütziges Ziel zu erreichen; nein, sie kämpfen für die Befreiung aller Völker, die den Angriffen autokratischer Gewalten ausgesetzt sind.»

Diese Absicht wird ja von deutschen Publizisten entstellt. Nach ihnen kämpft Amerika nur, um seine großen Außenstände bei der Entente zu sichern, die bei deren Niederlage verloren gehen würden. Oder auch, um sich gegen Japan und Mexiko durch einen Vorwand eine starke Rüstung anzuschaffen.

Diese Entstellung ist ebenso gemein wie dumm; aber auch ebenso gefährlich. Das von Wilson verkündete Kriegsziel weicht um kein Jota von der bisherigen Tradition der Vereinigten Staaten ab. Die elenden Verleumder wissen nicht, welche Kräfte in den Vereingten Staaten seit 1794, dem Jahr des Jay-Vertrags, also seit 123 jahren in der Richtung nach einer demokratisch und pazifistischen Ordnung der zwischenstaatlichen Verhältnisse an den Tag gelegt wurden. Nur wer diesen Zusammenhang nicht kennt, vermag jenen auf den Leim zu gehen. Leider sind aber die Leute, die diesen Zusammenhang kennen, sehr wenige, und die andern bilden die große kompakte Masse. Für sie ist das Gebilde Wirklichkeit, und deshalb ist das Treiben der Fälscher eine so ungeheure Gefahr. Sie wiegen die Masse der Völker in Träume, die eines Tags zerstieben müssen.

In einigem scheint aber diese neue Botschaft Wilsons doch nicht recht zu haben. So bezeichnet sie die Lage Deutschlands als verzweifelt, die Niederlage schon jetzt als unvermeidlich. Das ist eine Verkennung der Tatsachen. Eine Besiegung Deutschlands wäre nur möglich, wenn der Krieg noch mehrere Jahre dauern könnte. Das erscheint aber ausgeschlossen. Vielleicht könnte Deutschland in drei bis vier jahren niedergerungen werden. Aber um welchen Preis? Doch nur um den Preis einer irreparablen Vernichtung der Sieger. Was nützt es, Europa vom preußischen Militarismus zu befreien, wenn es gleichzeitig auch von der europäischen Menschheit «befreit» wird, wenn man nur verwüsteten Boden erhält. Der Ausweg aus dem Dilemma scheint mir noch immer nach der Richtung eines Verständigungsfriedens zu liegen. Der Umstand, dass schon heute der Preis des Kriegs niemals in einem vernünftigen Verhältnis des Aufwands und der Opfer liegen kann, die dargebracht wurden, lässt die Institution des Militarismus bereits als niedergebrochen erscheinen. Der Panther hat einen Pfeil in der Lende, er brüllt noch, seine Tatzen greifen noch aus, aber seine Lebenskraft wird nur noch durch den Krieg erhalten, sie muss rasch verschwinden, wenn der Krieg beendigt sein wird. Die Rückwirkung des Kriegs — wie oft habe ich es in diesen Jahren gesagt — sie wird das Heil bringen, das die Waffen niemals oder nur bei unwiederherstellbarer Vernichtung alles der heutigen Menschheit Wertvollen erreichen können.

Maximilian Harden hat mir über den Artikel geschrieben, den ich im Maiheft der «Friedens-Warte» über ihn veröffentlicht habe. Er verwahrt sich, sonderbarerweise, dagegen, dass er jemals zum Krieg gehetzt habe.

(Ich weiß), «dass in keinem Land irgendwer mehr zur Vermeidung der Katastrophe versucht hat als ich.» Und weiter: «Jede unbefangen aufmerksame Lektüre der ,Zukunft’ wird das erweisen, insbesondere für die letzten sechs Monate vor August 14, aber auch früher. Dass ich eine Weile richtig fand, den Glauben zu bekämpfen, wir werden unter allen Umständen zurückweichen, hatte ja auch nur den Zweck, das Furchtbare zu verhüten, war eben Politik.»

In einem Schreiben vom 6. Juni heißt es:

«Wäre ich ,Hetzer’ gewesen, so wäre ich an dem ruchlosesten Verbrechen mitschuldig: und Sie schreiben gar: ,einer der schlimmsten!’ . . . Keiner hat die Grimasse, die Unrast des Gebärens, alles, was ins heute führen müsste, seit Jahrzehnten schroffer bekämpft, keiner mehr von solchem Drang zu leiden gehabt. Das ist alles erweislich.»

Wie das «erweislich» sein soll, ist mir ein Rätsel. Es lässt sich aus jeder Zeile das Gegenteil erweisen. Immerhin ist der Versuch dieser Abwehr ein Zeichen der Zeit. Wenn dieser Krieg mit leichtem Sieg geendet hätte, hätte dann Harden auch mit Nachdruck zu erweisen gesucht, dass er das meiste zu seiner Verhinderung getan hat?

Es ist ein Erfolg, dass Harden den Krieg jetzt als das «ruchloseste Verbrechen» bezeichnet.