Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 19. April.

Einige Tage hieher, um Ruhe und Vergessen zu genießen. Vergebliches Bemühen. Den Schneestürmen zwar entflohen, die jenseits des Gotthard, zu den übrigen Verzweiflungen die Seelenbedrückung noch erhöhen, aber auch unter der leuchtenden Sonne und blühenden Pracht dieses glücklichen Erdfleckens sind weder Ruhe noch Vergessen zu finden. Das Weltschicksal liegt in uns, und wir tragen sein Weh und sein Beben mit, wohin wir uns auch wenden mögen.

Was hat sich in diesen acht Tagen, seitdem ich die letzte Eintragung hier gemacht, nicht alles ereignet! Die russische Revolution mit ihren Peripetien, die die Hoffnung auf Kriegsende erweckt und gleich wieder Befürchtungen erstehen lässt, dass ein solches Kriegsende die Realität des kommenden Friedens beeinträchtigen könnte; das neue Friedensangebot aus Österreich - Ungarn und Deutschland an Russland; der Ruf nach einem «ehrenvollen» Frieden, als ob dieses Phantastenwort alles enthielte, was die Menschheit braucht. Selbst der nach alten militärischen Gesichtspunkten ehrenvollste Friede wird niemals die Schmach dieses Kriegs Überkleistern! Niemals! — Wie leicht ist es doch, Kriege zu beginnen, wie schwer, das Ende zu finden! Als Sportbetätigung für Menschen ohne Lebensinhalt wird wohl dieses Riesengesellschaftsspiel der Drohnen für immer erledigt sein. Die verzweifelten Friedenssucher sind doch tragische Gestalten. Und welche Ironie des Schicksals, welcher Witz der Weltgeschichte! Die früher in Deutschland Gebrandmarkten, die als Vaterlandsfeinde verächtlich gemachten Sozialdemokraten werden jetzt ausgesandt, um den Frieden zu holen, den Staat zu retten. Wird man künftig in Deutschland und Österreich-Ungarn die Sozialdemokratie begrüßen mit dem alten Jubellied der Dynastie «Heil Dir im Siegerkranz, Retter des Vaterlands?» «Eine Rotte, nicht wert den Namen Deutsche zu tragen» sitzt jetzt in Stockholm und soll der Menschheit die Erlösung bringen von der Qual der 32 Monate.

Im Westen hat die französisch-englische Offensive im größten Umfang eingesetzt mit den üblichen Anfangserfolgen und großen Gefangenenzahlen. Wieder ein Blutbad furchtbarsten Umfangs. Amerika rüstet, und unter den Republiken der neuen Welt schließen sich immer noch neue dem Krieg gegen Deutschland an. Man ist sich der Teilnehmer kaum mehr bewusst. Jetzt sollen noch Bolivien und Haiti die diplomatischen Beziehungen abgebrochen haben. Die parlamentarischen Körperschaften der Union haben mit einem Schlag sieben Milliarden Dollar als ersten Kriegsbeitrag bewilligt. Sieben Milliarden das sind fünfunddreissig Milliarden Franken. Der Wahnsinn wird immer teurer, immer vernichtender.

Englische Flieger bombardierten Freiburg und töteten ein Dutzend unschuldiger Menschen. Als Repressalie für die Verletzung der 10. Haager Konvention, wie es heißt, infolge der Versenkung eines englischen Hospitalschiffs durch Deutschland. Dieser Wahnsinn der Repressalien ist auch eine der beredtesten Blüten der militärischen Mentalität. Die Auffassung eines gesamten Staates als eine gesamte, gesamtfühlende Einheit! Als ob irgendetwas gerächt, irgendetwas geändert werden, als ob die Gesamtheit Deutschlands Schmerz empfinden würde, wenn in irgendeiner deutschen Stadt zwölf Menschen getötet werden, die mit der Tat, die der Repressalie zugrunde liegt, nicht das Geringste zu tun hatten! Welch hell lodernder Wahnsinn! Aber eine Kaste, die in der Fiktion lebt, ein Regiment, das sich aus Menschen zusammensetzt, die in den letzten dreißig Jahren geboren wurden, habe dennoch einen Zusammenhang mit dem selben Regiment, das etwa vor zweihundert Jahren irgendeine Tat geleistet hat, kann sich natürlich auch der Fiktion hingeben, der Maurermeister Schulze in Freiburg sei das richtige Subjekt, das für die Versenkung eines Hospitalschiffs im englischen Kanal, das für die Verletzung irgend einer Haager Abmachung mit dem Tod bestraft werden muss. Dass es solche Narrheiten gibt, nimmt nicht Wunder, dass aber Menschen, die in solchen Narrheiten denken, dazu berufen sein konnten, die Geschicke der Welt zu beherrschen, das ist die große Hirnverbranntheit unsrer Zeit, von der uns dieser Krieg hoffentlich befreien wird.

In Österreich soll das Parlament einberufen werden, weil der Friede in die Nähe gerückt ist, wie es in den Zeitungsankündigungen heisst, nachdem es als einziges Parlament der kriegführenden Länder während der Zeit der unerhörtesten Opfer des Volks nicht tagen durfte.

Massenausstände in Berlin, über die man bis jetzt nichts genaues hören konnte.

Dies ist noch lange nicht alles, was in den acht Tagen des Pausierens in meinen Eintragungen an Wichtigem sich ereignet hat.