Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

26. August 1914.

«Namur genommen !» Das war gestern Nachmittag der Jubelruf, der sich von Mund zu Mund fortpflanzte. Es ist aber auch frappierend, mit welch gradliniger Wucht Deutschland vorgeht. Welchen Wert haben noch Festungen, wenn man sie in drei Tagen hinweg schieben kann, wie einen Ziegelstein am Weg. Es sollen die neuen 42 cm-Belagerungsgeschütze sein, von deren Existenz man ausserhalb Deutschlands nichts gewusst hat. Wenn das wahr ist, dann haben wir vielleicht hier den Schlüssel für die Erforschung der Kriegsursache. Ich habe von allem Anfang an die Vermutung ausgedrückt, dass die Militärleitungen Österreichs und Deutschlands das Bewusstsein einer momentanen Überlegenheit gehabt haben müssen, das durch die Erklärungen des Senators Humbert über die Vernachlässigung in der französischen Armee noch gestärkt worden wäre. Es hat allen Anschein, dass es ein Präventivkrieg ist, der hier geführt wird, die Ausnützung einer günstigen Konjunktur. So etwas gibt man natürlich nie zu.

Lustig hörte ich gestern Nachmittag schöne Frauen die Sieges-Nachricht von Namur erzählen. Als wenn es das Ergebnis einer Konkurrenz beim Blumenkorso gewesen wäre. Keine Ahnung haben die Menschen, was in den Worten «Namur genommen!» für Schicksal liegt. Ebensowenig Ahnung wie von den Gepflogenheiten der Marsbewohner. Noch weniger; denn von diesen macht sich doch jeder den Versuch einer Vorstellung. Ich erhärtete diese sorglose Unwissenheit an einem Exempel. Tags zuvor war ich Zeuge eines Unfalls auf der Strassenbahn, den ich erzählte. Ein gut gekleideter Herr sprang während der Fahrt ab, glitt aus, wurde eine Strecke lang von dem Wagen, an dem er sich festhielt, geschleift, musste dann auslassen und fiel auf den schmalen Zwischenraum zwischen Trottoirrand und dem Räderrahmen. Er hielt sich krampfhaft zusammen, — der Wagen fuhr vorbei — und ausser einigen Kontusionen war ihm nichts geschehen. Die Damen, die kurz vorher freudig lächelnd mit der Einnahme von Namur kokettiert hatten — und auch die Herren am Tische — fuhren bei meiner Erzählung entsetzt zusammen, verzerrten ängstlich die Gesichter und machten die Bewegung des Erschauerns. Keine Ahnung hat die Gesellschaft, dass dieser harmlos verlaufene Strassenbahnunfall nicht den 86 millionsten Teil des Schreckens bei der Einnahme einer modernen Festung bedeutet. Es hat schon unser Nowicow trefflich nachgewiesen, dass das mangelnde Vorstellungsvermögen eine Hauptursache der Kriegsroutine bildet.

Eine weitere Kriegserklärung: Österreich-Ungarn an Japan. Durch das Ultimatum Japans an Deutschland hat die Monarchie sich veranlasst gesehen, auch im fernen Osten die Waffenbrüderschaft mit dem Reiche zu bekunden. Der auf der ostasiatischen Station befindliche österreichisch-ungarische Kreuzer «Kaiserin Elisabeth» hat den Befehl erhalten, sich den deutschen Schiffen anzuschliessen, das heisst — mit ihnen unterzugehen. Das ist gewiss recht edel und gross gedacht, vom Gesichtspunkt einer geläuterten Weltanschauung, die die militärische Romantik nicht begreift, jedoch nicht zu billigen. Waffenbrüderschaft solange man damit etwas nützen kann, ist gewiss recht. Bloss der schönen Geste wegen hunderte Menschen opfern ist nicht am Platze.

Gestern abend erhielt ich aus Köln von Edwin D. Mead ein Telegramm, das mir mitteilte, dass er nach Berlin reise. Ich habe mich entschlossen, der darin enthaltenen Aufforderung zu einer Zusammenkunft Folge zu leisten und reise heute nach Berlin. Es erscheint mir wichtig, mit einem amerikanischen Pazifisten, ehe er nach seiner Heimat zurückkehrt, Rücksprache zu nehmen.