Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

28. Januar (Bern),{end}

Ein halbes Jahr Weltkrieg.

Der Zustand, wie ich ihn hier nach dem ersten Vierteljahr geschildert habe, hat sich nur insofern geändert, als die Opfer grösser geworden sind. Sonst ist Alles beim Alten geblieben. Der Positionskrieg im Osten und Westen weist einige Verschiebungen auf; aber keinerlei Entscheidung ist gefallen. Es gibt noch keinen Sieger, keinen Besiegten. Schwächen, die sich auf einer Seite zeigen, werden durch ähnliche auf der andern aufgewogen.

Dieses erste halbe Jahr des Weltkriegs ist für diejenigen unter den Kriegführenden, die entscheidend weltumfassende Siege erhoffen, eine bittere Enttäuschung. Für uns Pazifisten, die wir den Krieg als untaugliches Mittel für europäische Großstaaten bezeichnet haben, bedeutet dieses Halbjahr bei allem Schmerz über den lodernden Wahnsinn einen Triumph. Es werden sich wohl auch heute jene Kriegsbegeisterten, die vor einem halben Jahre noch von glänzenden Erfolgen und einem umfassenden Umschwung der Verhältnisse träumten, zugestehen, dass sie sich über die Tragweite des zu Erringenden getäuscht haben. Äusserlich geben sich ja alle noch so, als erwarteten sie die Erfüllung ihrer kühnsten Träume. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wer die Stimmung richtig zu erfassen vermag, der erkennt, dass jene Welteroberer schon viel Wasser in ihren Wein getan haben. Sie, die von einer Weltvorherrschaft träumten, beginnen einzusehen, dass es eine solche nicht geben kann. Ihre Träume gehen heute nur mehr dahin, dass es sich zeigen wird, dass Deutschland sich gegen einen Ring von Feinden ehrlich und heldenhaft zu verteidigen vermag. Daran hat aber vorher auch niemand gezweifelt. Dies zu beweisen, war gar nicht nötig, und dafür hätte man auch nicht das Leben und die Gesundheit so vieler junger Männer zu opfern brauchen.

Aber wenn es sich nun gezeigt hat, dass eine Weltvorherrschaft nicht möglich ist, warum kämpft man noch? Doch nur, weil es den landläufigen Ehrbegriffen zuwiderläuft, den Ruf zu einer Verständigung zuerst auszustossen. Man fürchtet, dass man gerade dadurch, dass man sich zur Vernunft bekennt, als besiegt gelten könnte, ohne es in der Tat zu sein. Aber man ist nicht besiegt, weil man zugibt, dass man sich in der Tragweite des zu Erreichenden getäuscht hat und daher für eine Abkürzung des Verfahrens eintritt, das bei ungehemmter Weiterführung die Verluste nur vergrössern und umso schrecklicher machen muss. Aber die Kriegspsyche lässt eine derartige vernünftige Auffassung des Problems nicht aufkommen. In der Hurra-Psychose erscheint nun einmal jener als Besiegter, der zuerst vom Frieden spricht.

Hier wäre nun der richtige Augenblick für die Neutralen gekommen. Aber diese sind in ihren politischen Anschauungen für eine solche Aufgabe äusserst ungeeignet. Zwei der neutralen Staaten Europas sind an dem Ausgang des Kriegs zu sehr interessiert, als dass man sie als wirklich neutral bezeichnen könnte; die andern europäischen Staaten sind für eine derartige Intervention zu klein und zu wenig einflussreich. Es blieben denn die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort herrscht aber noch immer die gefährliche Anschauung vor, der Krieg müsse ausgekämpft werden, er müsse eine Entscheidung bringen, und zwar eine gegen Deutschland gerichtete Entscheidung. Dass eine solche ebenso unmöglich ist wie die Erfüllung der Träume der deutschen Kriegsapostel, wird drüben noch nicht erkannt.

Man muss dafür sorgen, dass das nun endlich erkannt wird. Nur Amerika könnte Europa retten; nur Amerika hat es in der Hand, das Leben von noch einer Million blühender Menschen zu bewahren, wenn es mit dem verderblichen Wahn bräche, Deutschland müsse, um für eine andre Politik gewonnen zu werden, erst vernichtet sein.

Das ist nicht wahr. Der ausgebliebene Erfolg der alldeutschen Schreier und Kriegsutopisten wird die Grundlage für eine europäische Friedenspolitik bilden, an der auch Deutschland endlich Anteil nehmen wird.

Nur ein nicht geschlagenes Deutschland vermag, ein Grundpfeiler des künftigen Europas zu werden. Ein geschlagenes Deutschland, wie die Amerikaner sich das vorstellen, ist nicht denkbar ohne ein vorher völlig vernichtetes Europa.

Möchte doch der Halbjahrstag dieses unseligen Kriegs die Köpfe im alten Europa — sofern sie noch nicht zerschlagen sind — und auch im jungen Amerika zum Denken anregen. Denken ist schon viel in einer Zeit, wo die Schrapnells sprechen. So könnte es kommen, dass in wenigen Wochen oder Monaten die Beweiskraft der Waffen dem einzig förderlichen Mittel der Entwicklung, der Diskussion, Platz gemacht haben wird. —

Aber wird es so kommen?