Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Dezember.

Die Weihnachtstage sind vorüber gegangen. Die ersten ohne Krieg. Man hatte sie sich anders vorgestellt. Ganz anders. Gewiss, bei den Siegern drüben, da wird es Jubel gegeben haben; Jubel, der schließlich auch nur den Schmerz über die Millionenopfer übertönt aber nicht beseitigt haben wird. Aber in den Ländern der Zentralmächte liegt schwer die Wucht der Niederlage auf den Menschen, die Ungewissheit über die Gewissheit des künftigen Elends, die Not und die Verzweiflung der Gegenwart, das innerpolitische Chaos, die völlige Lähmung von Wirtschaft und Verkehr. Es ist ein Zustand, der dem Tod ähnlicher ist als dem Leben. Es ist die Wehrlosigkeit des Gelähmten, die Schwäche dessen, der eine schwere, langwierige Krankheit über sich ergehen lassen musste.

Der Tag, an dem die schreckliche Zwischenzeit ihr Ende finden soll, ist noch nicht abzusehen. Die Richter beraten langatmig unter sich, und der Angeklagte muss warten, bis man ihn rufen wird, sein Urteil zu hören.

Allem Anschein nach geht jetzt in Paris und London erst der Entscheidungskampf in diesem Krieg vor sich. In den Kämpfen, die von der durch den Sieg militaristisch beeinflussten Diplomatie der europäischen Westmächte mit dem Pazifismus geführt werden, dessen Bannerträger Wilson ist, handelt es sich darum, ob diesem Krieg eine neue Welt und Menschheitsordnung folgen soll. Es müssen schwere Kämpfe sein, die Wilson zu führen hat. Und davon, ob er als Sieger heimkehrt oder als Besiegter, hängt schließlich alles ab.

Noch immer hoffe ich auf seinen Sieg.

Kommt er zustande, ist die Möglichkeit einer baldigen Überwindung des Weltchaos gegeben. Kommt es nicht dazu, dann wird erst aus einer Jahrzehnte währenden Unruhe die neue Welt geboren worden. Erst eine völlig neue Generation wird die Kraft haben, die Gärung zu beruhigen und eine neue Weltordnung festzulegen.