Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 2. August.

Pastor Nithack-Stahn schreibt in einem in der «Christlichen Welt» veröffentlichten Artikel (Politik und Moral):

«Wie der Krieg, in dem wir stehen, nicht ein Krieg nach und vor anderen, sondern der Krieg ist, die höchste und kaum überbietbare Verwirklichung dieses Begriffes, so beispiellos sind auch jetzt seine Wirkungen. Schlechthin neu an ihm ist vor allem dies, das zum erstenmal in der Geschichte der Krieg als solcher Millionen Menschen zum Problem geworden ist. Für immer vorbei ist die Zeit, wo die Völker ihn als selbstverständliches Ereignis hinnahmen, als natürliche Unterbrechung des Friedens, wie Sommer und Winter wechseln, sei er denn Gottes Schickung oder Naturereignis oder im Rate der Fürsten und Staatsmänner beschlossen. ln Millionen Köpfen ist die Skepsis gegen den Krieg erwacht — schon seit den letzten Menschenaltern langsam aufsteigend, aber erst heute weithin offenbar — nie wieder zu beschwichtigen. Daher eine Kriegsliteratur, die über alle politischen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit hinaus die Fragwürdigkeit des Krieges überhaupt voraussetzt, seinen sittlichen Charakter untersucht».

«Die Skepsis gegen den Krieg»! Ja, die ist erwacht. Der Gedanke von der Weltordnungsgemässheit des Krieges, von der Naturbedingtheit seiner Entladung, von der Ohnmacht des Ankämpfens gegen ihn ist dahin. Wohl für immer dahin. Und diejenigen, die diese Ideen noch weiter vertreten wollen, werden eine komische Figur machen, wie Wahrsagerinnen oder Gesundbeter. Es wird immer weitern Schichten der Bevölkerung aller Länder klar, dass der Krieg ein vermeidbares Übel ist, dass auch dieser Krieg vermeidbar war, und dass jene Umstände und Verhältnisse, die seine Vermeidung verhinderten, der Kern der Krankheit sind, von der Europa geheilt werden muss.

ln einem Zustimmungsbrief, den ich heute von Frau A. (Wiesbaden) erhielt, heisst es:

«Wenn jetzt ein Staatsmann auftauchen würde, einerlei in welchem Land, der die Grösse und Aufgabe erfasste, und die grosse Weisheit und Güte besässe, die Fäden zur Verständigung zu fassen und die Zukunft der europäischen Staaten untereinander und miteinander vorzubereiten durch einen Frieden, den kein Staat unterdrücken und verletzen dürfe, er würde sich ein Denkmal für ewige Zeiten setzen. Ich muss immer an Hunde denken, die sich ineinander verbissen haben und ohne Hilfe von aussen nicht auseinander können».

«Ein Anschluss an Russland», so heisst es im selben Brief, «wäre nicht auszudenken». Gleichzeitig erhielt ich jedoch einen Brief des Grafen A.A., worin es heisst: «Was ich von der Möglichkeit schrieb, dass die Zentralmächte, um der Isolierung zu entgehen, zu einer Verständigung mit Russland gedrängt sein könnten, war nur pro interna gemeint, als eine eventuell eintretende traurige Notwendigkeit, als ein uns aufgedrungenes Auskunftsmittel ...»

Die Zentralmächte haben eine Isolierung nicht zu fürchten, wenn sie auf die Gründung eines europäischen Staatensystems einzugehen bereit wären.