Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. November.

Weiter im rasenden Galopp! Wohin nur? — In Budapest und Wien revolutionäre Bewegung. Soldaten und Offiziere mit den Bürgern. Generäle wurden gezwungen die republikanische Trikolore aufzuheften. In Budapest soll die Republik proklamiert sein. In Wien hat sich der deutsche Nationalrat konstituiert mit einem Stab von Staatssekretären, die den Sozialdemokraten, Nationalverbändlern und Christlichsozialen entnommen sind Victor Adler Staatssekretär des Äußern, Renner, Chef der Regierungskanzlei. Auch hier starke republikanische Strömung. In Sarajewo soll die großserbische Republik ausgerufen worden sein. In Böhmen fühlen sich die Tschechen schon als kriegführender Staat. Sie haben den Zugsverkehr zwischen Wien und Berlin unterbunden. In Triest Straßenkämpfe zwischen Italienern und Slowenen. An der Front hat die österreichisch-ungarische Armee die Räumung des italienischen Gebietes beschlossen und ist durch Parlamentär mit der italienischen Heerführung wegen eines sofortigen Waffenstillstandes in Verbindung getreten. Wofür kämpft denn heute noch eine österreichisch-ungarische Armee, wenn es kein Österreich-Ungarn mehr gibt?

Es ist das Chaos. Durch Lammaschs Programmrede wie aus Worten des österreichischen Kriegsministers Steiner-Stoeger dringt deutlich die Sorge über jene Zustände, die sich entwickeln werden, wenn das nicht durch Sieg gefestigte Millionenheer zurückkehren wird. Die Mahnung an die Bevölkerung, das nur geordnete Zustände im Hinterlande die Disziplin der Truppen erhalten könne, wird wenig nützen. Hier steht man einer großen Gefahr gegenüber. Einer sehr großen! Oh! Sieger Bloch! Wie stimmt das mit seinen Voraussagen überein und mit seiner bangen Frage Werden sich denn die heimkehrenden Truppen auch so willig entwaffnen lassen?

Die Nachricht von der Ermordung des Grafen Tisza kam heute morgen.

Wie oft, wenn sich uns das Herz zusammenkrampfte über die Greuel und Opfer dieses Kriegs, haben wir dessen Urhebern den Tod gewünscht, alle Qualen und Martern für sie ersehnt. Wenn man nun der vollzogenen Tatsache gegenübersteht, ist es keine Genugtuung. Wir sind Feinde des Mordes auch dort, wo er den Schein der Gerechtigkeit besitzt. Es gibt keinen gerechten Mord! Aber auch die Entrüstung bringen wir nicht auf gegen die Tat. Wir begreifen sie. Wer leichten Herzens dieses Unheil über die Menschheit gebracht, muss damit gerechnet haben, dass die Verzweiflung, die es erzeugt, sich auch gegen ihn richtet. Und es scheint mir auch, dass dieser schnelle Tod für den Kriegsverbrecher eine zu geringe Strafe ist. Eine viel zu geringe. Lebend sollen sie alle den Fluch der Menschheit ertragen müssen, der sich gegen sie richten wird.

Aber was bezeichnet dieser Mord, welche Zustände müssen schon eingerissen sein in dem unglücklichen Land, wenn die Soldaten truppweise in die Häuser gehen und, kurz entschlossen, niederknallen, wen sie sich dazu ausgesucht haben.