Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 24. Februar.

An der Westfront bebt es wieder. Seit einigen Tagen erhöhte Tätigkeit auf deutscher Seite. Gestern ein grösserer Vorstoss bei Verdun. Drei Kilometer tief. Was kostet er? Und was wird die weitere Bewegung kosten, wenn sie sich zur richtigen Offensive ausgestalten sollte?

Die Hoffnung, den Krieg abzuschneiden und das Fürchterliche, das kommen muss, der Menschheit zu ersparen, sinkt wieder. Die Erklärungen, die Asquith gestern im Unterhaus abgegeben, sind ganz danach angetan, die Durchhalte-Eiferer in Deutschland zu stärken. Zwei Abgeordnete des englischen Parlaments — Snowden und Trevelyan — wagten es, für den Frieden zu sprechen. Aber Asquith sagte: England werde das Schwert nicht in die Scheide stecken, solange Belgien und Serbien nicht vollständig wieder hergestellt seien, solange Frankreich nicht gegen einen neuen Angriff gesichert dastehen, solange das Existenzrecht der kleinen Staaten in Europa nicht auf sichere Grundlage gestellt worden sei und solange die militärische Vorherrschaft Preussens nicht vollständig und für immer zerschmettert sein werde. — Auch in der neu eröffneten russischen Duma erklärten sich die Regierung und die Vertreter aller Parteien für das Durchhalten bis zum siegreichen Ende.

Der Wahnsinn wird nicht zur Vernunft dadurch, dass er international und höchst offiziell auftritt. — Man sollte einmal eine allgemeine Abstimmung in den kriegführenden Ländern über Durchhalten oder Aufhören bewirken. Das Ergebnis wäre ein verblüffendes. Wenn nicht bald ein Umschwung, nicht bald ein Strahl der Vernunft kommt, ist das Schicksal Europas besiegelt.

Wie eine leise Hoffnung mutet es dagegen an, wenn man die Mailänder Depesche vom 21. Februar liest:

«In einem Interview mit dem Direktor der «Rivista Politica Parlamentare» erklärte Marchese Capelli, der Präsident des Internationalen Ackerbauinstituts, das von ihm präsidierte Institut sei eine der wenigen internationalen Schöpfungen, die den Krieg überdauerten. Nach wie vor halte der permanente Ausschuss seine Sitzungen ab. Der Verkehr mit den Ländern, mit denen sich Italien im Krieg befindet, werde durch ein in der Schweiz eingerichtetes Spezialbureau aufrechterhalten. Der schweizerische Bauernsekretär, Prof. Dr. Laur, habe die Aufgabe übernommen, das aus Deutschland, Österreich, Bulgarien und der Türkei eintreffende statistische Material nach Rom weiterzuleiten. Keiner der beteiligten Staaten habe bis heute dem internationalen Ackerbauinstitut den Austritt erklärt».

Die Kulturinstrumente sind also noch intakt. Werden sie aber wirken können, wenn die Seele der Kultur vernichtet sein wird? Was nützt die Maschine, der der Stoff zur Verarbeitung fehlt? Sie läuft leer.

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Professor Dessoir in Berlin, der als Psychologe an die Front ging, um den Krieg in seinen psychologischen Äusserungen zu studieren, hat über seine Studien in Berlin einen Vortrag gehalten. Darin sagt er u.a.:

«Psychologisch betrachtet ist das kämpfende Heer eine Gruppe von Individuen, die aus ihrer gewöhnlichen Umgebung losgelöst sind und durch den Zweck einer neuen Ganzheit zusammengehalten werden. Die gewaltigen Leistungen innerhalb des neuen Rahmens erklären sich allein aus dem Willen; was er zustande bringt, ist ,märchenhaft’, umsomehr, als es sich nicht um Athleten des Geisteslebens handelt, sondern allein um Männer, die wollen. Der Wille erwies sich als so allmächtig, weil er in den Dienst einer überpersönlichen Aufgabe gestellt ist. Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch, dass die stärkste persönliche Willensanspannung im Dienst einer überpersönlichen Aufgabe geleistet wird».

Eine solche Ausnutzung des Willens brauchte man zur Vermeidung des Kriegs. Hier wäre eine Aufgabe, den Willen zum Frieden durch Höchstleistung der Willenskraft durchzusetzen. Ich sagte es schon längst. Am Wollen liegt es.