Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. September.

Der Reichskanzler hat gesprochen. Der Krieg wird durch seine Rede nicht um eine Stunde verkürzt werden. Sie verkündet das Durchhalten. Sie fordert den Sieg. «Es gibt nur eine Parole: Ausharren und Siegen!» Oh! Es gäbe noch eine andere: Sieg Aller durch Ausgleich. Wenn etwas einen Lichtschimmer verrät, so ist es des Kanzlers Bitterkeit und Empörung über die Annexionsforderungen — der Anderen.

«Die Kriegsziele, die die Feinde stets unverhüllter verkünden, bilden kein Missverständnis: Ländergier und Vernichtung. Ich sprach hier immer wieder darüber: Konstantinopel den Russen, Elsass-Lothringen den Franzosen, das Trentino und Triest den Italienern, Siebenbürgen den Rumänen!»

So spricht der Kanzler. Und, anknüpfend an die Rede Briands sagt er von den Gegnern:

«Ihre Eroberungslust trägt die Schuld, dass sich täglich die Leichenberge höher türmen.»

Soll das nur für die Eroberungssüchtigen in den andern Ländern gelten, nicht auch für die Eroberer im eigenen Land? Sind die auch als Schuldige an den täglich sich höher türmenden Leichenhügel angeklagt, die in Deutschland Landerweiterung in Ost und West und über See verlangen? — Der Kanzler hat den Mut der in der Front Stehenden in glühend warmen Worten bewundert, warum hatte er nicht selbst den Mut aufgebracht, offen gegen jene Annexionisten im eigenen Land vorzugehen, die den Gegnern erst den Anlass geben, «Ländergier und Vernichtung» zu ihrem Programm zu machen. Ein kraftvolles Wort nach dieser Richtung, und wir stünden dem Kriegsende unvergleichlich näher.

Auch über die künftige Organisation des Friedens scheint der Kanzler gesprochen zu haben. Hoffentlich ausführlicher als der telegraphische Bericht es vermuten lässt. Danach bezog er sich auf die letzte Rede des französischen Ministerpräsidenten, worin dieser gesagt habe, Frankreich kämpfe um einen dauerhaften Frieden, in dem internationale Abmachungen die Freiheit der Nationen vor jedem Angriff schützen sollen. Daran knüpfte der Reichskanzler mit einem blossen «das wollen auch wir» an. Das wollen auch wir! Diese Botschaft hätte etwas mehr unterstrichen werden müssen, damit sich auch der Glaube einstelle. Der fehlt; fehlt sogar uns, wie erst den Feinden — So nebensächlich ist doch diese Angelegenheit nicht, dass man sie mit vier Worten erledigt, dass man nicht näher, um vieles näher, darauf hätte eingehen müssen. Die Staatsmänner der Entente haben alle — nicht nur der französische Ministerpräsident in seiner letzten Rede — von allem Anfang an und immer wieder darauf hingewiesen, dass diesem Krieg ein Friede folgen müsse, der an Stelle der gefährlichen zwischenstaatlichen Anarchie eine festgefügte zwischenstaatliche Ordnung setze. Sie sind dabei von der Voraussetzung ausgegangen, dass Deutschland allein eine derartige Organisation nicht wünsche, dass sie ihm aufgedrungen werden müsse. Eine Erklärung von deutscher Seite, dass man nach Beendigung des Kriegs einem solchen Abkommen nicht abgeneigt sei, dass die deutsche Regierung trotz mannigfacher früherer Fehler in dieser Hinsicht, und in deren zugestandener Erkenntnis, an dem Konsolidierungswerk eines künftigen organisierten Friedenszustandes mitzuarbeiten geneigt sei, erwies sich als notwendig! Sie könnte Berge von Leichen ersparen; denn sie brächte uns dem Kriegsende näher. Eine solche Erklärung, die von der Wärme der Überzeugung hätte getragen sein müssen, erwartete man jetzt vom Reichskanzler. Statt dessen dieses kalte «das wollen auch wir», statt dessen die taktisch unklugen Vorwürfe an die Gegner, dass ihre Politik der Revanche, der Einkreisung, der Eroberungslust, des Hasses, der Weltherrschaftsideen keine Grundlage für eine derartige Friedensorganisation geboten hätte, nicht der Boden wäre, aus dem internationale Abmachungen hervorwachsen können, die die Zusammenarbeit im Dienst der Humanität und der Gesittung verbürgen. Nein, das ist sicherlich nicht der Boden, es ist aber dieser Boden just das Übel, das beseitigt werden soll, und man darf das Übel nie als einen Beweis der Untauglichkeit des Gegenmittels ansehen, sonst käme man nie dazu, etwas Schlechtes durch etwas Gutes zu ersetzen, und man darf das umso weniger tun, wenn man selbst sich eine Reihe von Unterlassungen zu Schulden kommen liess, die das Übel nur gefestigt haben.

Und was soll man vollends zu der Andeutung des Kanzlers sagen, wonach das bisherige politische System des Reichs auch in die Zukunft hinübergerettet werden soll.

«Wir können nichts von alledem, was uns die Feuerprobe bestehen lasst, im Frieden vermissen. Was im Krieg sich so wunderbar bewährt, muss auch im Frieden leben und wirken.»

Das ist ein Trugschluss! Es wird in ruhigen Tagen zu untersuchen sein, ob nicht gerade diese kriegstüchtigen Friedenstugenden das schlechteste Mittel zur Verhütung des Kriegs waren.

Die Rede des Reichskanzlers ist nicht das, was man von ihr erwartet hat. Sie zeigt einen Mann, der sich gegen die Ereignisse zu wehren sucht, aber keinen Recken, der sie mit der Stosskraft seiner Persönlichkeit beherrscht.

* * *

Lloyd George hat einem Vertreter der «United Press» eine Unterredung gewährt und abermals den Jusqu’auboutismus verkündet, den Dauerkrieg für den Dauerfrieden. Er sagte u. a.: «Niemals wieder! ist unser Kriegsruf geworden. Die Leiden und Schmerzen vermehren sich bei uns. Die Schrecken des Kampfgebiets sind unbeschreiblich. Ich komme vom Schlachtfeld in Frankreich zurück. Ich habe geglaubt, an der Pforte der Hölle zu sein, als ich sah, wie Myrriaden von Männern in den Glutofen hineingingen, und ich habe einige verstümmelt und unkenntlich daraus wieder zurückkehren sehen. Dieses Schreckliche darf sich nicht wieder auf Erden ereignen. Ein Mittel, ihm ein Ende zu machen, besieht darin, den Urhebern dieses Verbrechens gegen die Menschheit eine solche Strafe aufzuerlegen, dass die Versuchung, ihr beginnen zu wiederholen, ein für allemal aus den Herzen der Regierenden, die einen verderbten Geist haben, getilgt wird Das ist das, was England will.»

Ob England das durch die Fortsetzung des Kriegs erreichen kann, will ich bezweifeln. Die Wiederholung eines solchen Kriegs wäre bereits jetzt ausgeschlossen, wenn man daran gehen wollte, ein Ende zu machen. Die Leiden und Schmerzen, wie die Schrecken des Kampfgebiets werden nicht durch Fortsetzung des Kriegs bis zu einem alles vernichtenden Ende gemildert.