Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. Dezember.

Wohlwollen ist das natürliche Empfinden jenen gegenüber, die uns nützlich sind, die in gemeinsamer Not mit uns zusammenstanden. Wohl wollen heisst, zu verstehen suchen. Gleichgültigkeit oder Hass führen uns dazu, nach Äusserlichkeiten zu urteilen, ohne deren innere Beweggründe zu erkennen, und die uns auffallenden Erscheinungen zu verurteilen. Der Hass verleitet uns überdies, das oberflächlich Wahrgenommene zu übertreiben und unsere Ablehnung zum Abscheu zu steigern.

Die Angehörigen der Zentralmächte überschütten sich gegenseitig und ihre Bundesgenossen mit Wohlwollen. Es ist eine Freude, zu sehen, wie sich alte Vorurteile lösen, wie man früher Verabscheutes jetzt zu verstehen und zu rechtfertigen sucht. Friedrich Naumanns Artikelreihe «Unsere Bundesgenossen und wir» ist ein typisches Beispiel dafür, wie sehr wir «wohl wollen» können, wenn wir wollen. Wie achtungsvoll spricht er z.B. von den Türken. Wie wird ihre «militärische Erziehung» gerühmt, ihre «innere Kraft», die vor Jahrhunderten als die «erste grosse Militärmacht» galt, die sich anschickte, Europa in Besitz zu nehmen. Nur langsam gaben sie Stück für Stück ihres Besitzes auf — von der Wiener Türkenschanze bis zur Tschatschaldschalinie — weil — nun weil «die Geschichte es so gewollt hat». Aber dieser Keim der Tüchtigkeit ist geblieben, und deutsche Militärkunst, die ihn richtig erkannt hat, entwickelte ihn, so dass das Staatsbewusstsein wieder aufloderte, und sie jetzt von Sieg zu Sieg führt. «Und wir haben mit steigender Bewunderung die Kraft dieses Staates kennen gelernt und sagen nun, nachdem wir euch so gesehen haben, das ist ein Bundesgenosse wie er sein soll. Die Türkei ist ein Staat, der lebt und leben wird».

So spricht das Wohlwollen. Früher sprachen wir anders. In den Schulen lernten wir von osmanischen Horden, die unsere blühende Kultur bedrohten, dass mit ihrer Vernichtung vor Wien das Europäertum gerettet wurde. Wir sahen in den Türken das wurzelechte Eroberervolk, das nur von der Ausbeutung der Unterdrückten lebte und nie imstande war, die Eroberten zu assimilieren. In deren Loslösung sahen wir schliesslich nur das Walten der rächenden Gerechtigkeit, die diesen nur auf Gewalt beruhenden Erobererstaat durch Gewalt zugrunde gehen liess. Nur zögernd und spät nahm man die Osmanen in die christliche Völkerrechtsgemeinschaft auf, und jedesmal, wenn ihr Gebiet im Krieg verringert wurde, erblickten wir darin einen Sieg des Christentums über den Halbmond. Wir beteiligten uns sogar recht lebhaft an der Stärkung dieser Siege, indem wir Bosnien und die Herzegowina und neuerdings Albanien diesem Staat, «der lebt und leben wird» entrissen.

So sprach die Gleichgültigkeit und der Hass. Ich will gar nicht entscheiden, wo hier unser Urteil der Wahrheit am nächsten kam. Ich will gar nicht darüber urteilen, ob wir gut tun, unser Schicksal mit dem Türkentum zu verbinden, und ob das deutsche Volk nicht höhere Aufgaben zu vollbringen hat als diese Vereinigung mit einem wesensfremden asiatischen Stamm, dessen Kultur beim besten Wohlwollen tief, tief unter der unseren steht. Ich will hier nur feststellen, zu welch menschlicher und kluger Betrachtungsweise man kommt, wenn man sich zum Wohlwollen entschliesst und die Frage daran knüpfen, warum wir diese Methode des Urteils nicht auch auf andere Völker erstrecken können, die uns vielleicht doch noch näher stehen als das mohamedanische Khalifenreich?

Wenn wir Deutschen den Ruf der Türken «Staat wollen wir sein!» begreifen, wie sollte uns dieser Ruf bei den Belgiern nicht begreiflich erscheinen? Wenn wir das Türkentum ob seiner Geschichte zu entschuldigen vermögen, das Türkentum, das unserer Kultur nie etwas gegeben hat, ausser jetzt Soldaten, wenn wir es ob all der Wesensfremdheit dennoch zu verstehen versuchen, warum wenden wir dieses Verfahren nicht mit allem Nachdruck gegenüber den Engländern an? Glaubt man, dass man nicht auch dem «perfiden Albion», dem englischen «Krämergeist» der Ruchlosigkeiten der angeblichen «Einkreisung» gegenüber ebenso zu einem Wandel unserer Auffassung gelangen kann, wie beim Grosstürkentum? Wir brauchen nur die Methoden des Wohlwollens anzuwenden und das uns so kultur- und wesensverwandte Volk der Briten kann unserer Seele ebenso nahegebracht werden wie man uns heute das der Osmanen nahebringen will. Will! Das ist die Lösung des Problems. Wohlwollen erreicht man durch Wollen. Alle anderen Motive sind Humbug. Wir brauchten nur zu wollen, und wir vermeiden den Misston, der in dem lächerlichen «Gott strafe England» und in dem so ernst sich gebenden «Gott segne die Türkei» liegt. Wir brauchen nur wohl zu wollen und alle Völker, auf die wir heute Eisenhagel fallen, und die wir durch hunderttausend Tintenschmierer verunglimpfen lassen, werden uns ebenso nahestehen, in ihren Fehlern ebenso verständlich und daher verzeihlich erscheinen, wie die Türken. Und bei Gott, es würde weniger Mühe kosten.