Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. November.

Allerseelen! Hier im zumeist protestantischen Lande wenig davon zu merken. Bei uns daheim mögen die Tränen heute ihren Lauf finden, die frischen Wunden bluten. Wieviele Bande der Liebe, der Treue, der Hingebung werden heute beweint werden, die durch diesen Krieg für immer gelöst sind, und nicht hätten gelöst werden müssen, wenn der entschieden überall vorhanden gewesene Wille zum Nichtkrieg (ich spreche gar nicht vom «Willen zum Frieden») glücklichere Vertreter gefunden hätte.

Das ist das Fürchterliche an diesen Verlusten im Krieg, dass das durch die Hingabe des Lebens dargebrachte Opfer in keinem Verhältnis steht zu dem damit Erreichten. Das Abschneiden des Lebens lange vor der Zeit, das Abbrechen aller Hoffnungen, das Zerreissen aller Bande, die an ein solches Leben geknüpft sind, ist so unendlich viel, und der Tote ist doch nur eine Stelle in der Riesenzahl der Verlustliste, eine Nummer in der grossen Reihe. Wahrhaftig, der Einsatz ist zu unverhältnismässig riesig.

Wenn man zusammenfassen könnte — welches Menschenhirn vermag das — was in diesen vergangenen drei Monaten durch den Krieg an Elend in der Welt hervorgerufen worden ist, Elend weit über die Opfer von Menschenleben hinaus, dann müsste die ganze Stupidität des Krieges den Menschen zum Bewusstsein kommen. Wenn der Krieg wirklich ein Förderer des Fortschritts, ein Erneuerer der Menschheit wäre, so müsste dieser Krieg dazu führen, die Menschheit über den Wahnsinn so zu erleuchten, dass er für alle Zukunft unmöglich gemacht wird. Denn der Krieg erweist sich nicht nur als das Grausamste, das es auf Erden gibt, sondern auch als das Dümmste.

Brief von P. und Lafontaine erhalten. Ersterer ausserordentlich freundschaftlich, letzterer verblendet und kränkend. Wirft uns vor, dass weder österreichische noch deutsche Pazifisten gegen das von Deutschland begangene Unrecht an Belgien protestiert haben und wies auf die Proteste der englischen und italienischen Pazifisten während des Transvaalkriegs und Tripoliskriegs hin. Kindisch! Während jener Kriege waren die staatsrechtlichen Garantien in jenen Ländern nicht aufgehoben. Er macht mir sogar den Vorwurf, dass ich mein Tagebuch erst am 7. August begonnen, um mich vor der Beurteilung des Völkerrechtsbruches vom 4. August zu drücken. Ebenso wie jener Alldeutsche, der mir vorwarf, ich hätte das Tagebuch erst am 7. August begonnen, um die Reichstagssitzung vom 4. August nicht besprechen zu müssen. Voreingenommenheit auf beiden Seiten. Ich habe mein Tagebuch am 7. August begonnen, weil ich früher an die Anlegung eines solchen nicht gedacht habe.

Lafontaine legt seinem Brief das von ihm redigierte Manifest bei, das 11 Mitglieder des Bureaus unterzeichnet haben. Dieses Manifest enthält einige utopische Vorschläge für den künftigen Frieden. Wenn diese beseitigt worden wären, hätten alle Mitglieder des Bureaus dieses Manifest unterzeichnen können. Aber Lafontaine wehrt sich gegen die Sitzung des Bureaus. Ganz unnötig wird dessen Einheit gestört.

Die Türkei ist in den Krieg eingetreten. Die Zentralmächte erhalten dadurch ihre erste Bundesgenossenschaft. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich Deutschland in dieser Gesellschaft seh! Man macht den Engländern den Vorwurf, dass sie Asien gegen Europa mobilisieren. Nun, die Türkei ist auch Asien, ist sogar diejenige asiatische Macht, die noch in Europa mitzureden wagt, und deren Vertreibung aus Europa als eine Kulturforderung aufgestellt wird. Wahrhaftig wir, die wir Frankreich und England den Vorwurf gemacht haben, dass sie sich mit dem russischen Zarismus verbanden, sollten uns auf die Bundesgenossenschaft mit dem Padischah nicht zu viel einbilden. Der Strassenjubel vor der Ottomanischen Botschaft in Berlin ist mit eine der widerlichsten Situationen dieses Kriegs.

Nun ist das italienische Ministerium gestürzt. Die Besetzung von Valona durch Italien vollzogen. Was für Entscheidungen die nächsten Tage aus dem Süden bringen werden setzt uns in Bangigkeit.