Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. Mai.

Über den Fliegerangriff, der am Pfingstmontag auf Köln stattfand, habe ich in deutschen Zeitungen nichts gefunden. Auch Leute, die ich danach gefragt, haben dort nichts darüber gelesen. Es muss, wenn überhaupt, sehr unauffällig darüber berichtet worden sein. Das wundert mich nicht. Es wäre schwer gewesen, die übliche Entrüstung anzustimmen. Denn wenige Stunden vorher waren mehr als 30 deutsche Flieger über London geflogen und haben dort arge Verheerungen angerichtet.

Da konnte man kaum von den tückischen Feinden sprechen, die offene Städte des Heimatgebiets angreifen, zumal Köln doch eine Festung ist, die noch viel näher zur Front liegt als London, das trotz aller Behauptungen des Generalstabs als Festung nicht angesehen werden kann. Das Rechnen mit der Vergesslichkeit der Menschen musste versagen, wo es sich nicht um einige zurückliegende Wochen, sondern nur um Stunden handelte. Die Gefahr bestand, dass selbst der deutsche Michel klarsichtig werden und erkennen konnte, dass man sich über die Handlung in Köln nicht entrüsten dürfe, wenn wenige Stunden vorher von uns die gleiche Handlung in London verübt wurde. Es wäre zu befürchten gewesen, dass dieser deutsche Michel plötzlich zu der schrecklichen Entdeckung gekommen wäre, die Mörder der in Köln getöteten Frauen und Kinder sind unsere eigenen, unsere deutschen Flieger, die durch ihre Aktion im Lande des Feindes dessen Aktion über Deutschland auslösten. Deshalb musste man über das Kölner Blutbad schweigen. Solche Gedanken durfte man nicht aufkommen lassen. So sehr im Neglige seines Wesens durfte man den Militarismus nicht sehen. Das über London gebrachte Grauen durfte man am Morgen nach Pfingsten breit und ausführlich lesen, aber von dem Blutbad in Köln gab an diesem Tag keine Zeitung Nachricht.

Aber für die Dauer lässt sich auch in dem heutigen Gefängnisstaat nichts verschweigen. Vielleicht war es auch das Aufschäumen der geknebelten Vernunft, das sich meldete, und so erfuhr die Öffentlichkeit am 25. Mai von dem am 18. Mai auf Köln erfolgten Fliegerangriff, durch eine in den Zeitungen veröffentlichte «Kleine Anfrage» eines Reichstagsabgeordneten, in der erwähnt wird, dass dieser Luftüberfall «außerordentlich zahlreiche Opfer an Toten und Verwundeten gefordert» hat. Es wird seitens des Abgeordneten auch angefragt, ob der Reichskanzler bereit sei, «Anregungen zu veranlassen oder Bestrebungen zu unterstützen, die dem sinnlosen Mord von Frauen und Kindern durch Abmachungen internationaler Art endlich ein Ende machen?» — Also doch! So sieht man endlich die Sinnlosigkeit dieses Mordens ein! Es hat lange gedauert. Der Fliegermord ist heute nicht sinnloser geworden, als er schon vor vier Jahren war. Und die Tatsache war für jeden nicht mit der Schiefsicht militaristischer Mentalität Behafteten schon längst klar, dass jeder Fliegermord eine von den eigenen Leuten ausgelöste Handlung ist, dass sich alle Bombenschmeißerei als eine Kette von Repressalien darstellt, bei der es wahrhaftig nicht darauf ankommt, wer einmal angefangen hat, sondern nur darauf, dass niemand den Mut und den Verstand hat, ein Ende zu finden.

Das Blutvergießen ist ein großes Unglück für Hunderttausende braver und ahnungsloser Männer. Dass aber dieses vergossene Blut dazu benützt wird, Staatsbeziehungen und Monarchenfreundschaften zu «weihen», Rechtsansprüche zu errichten, die durch weiteres Blutvergießen behauptet und verteidigt werden müssen, ist grauenhaft. Es ist, als ob diese fürchterlichen vier Jahre nichts, gar nichts geändert haben. Die Trinksprüche bei Monarchenzusammenkünften sind dieselben geblieben wie in der Zeit vor der Katastrophe. Der Staatsoberhäupterpazifismus wickelt sich in den alten Formen ab, und die Regisseure der Verbrüderung arbeiten noch mit den alten und ältesten Mitteln der kriegerischen Friedensphraseologie. Entsetzlich! Kann kein neuer Stil gefunden werden für diese Akte? Passen denn die Phrasen von «mein» Volk, «dein» Volk, «sein» Volk, von der «ruhmreichen Waffenbrüderschaft», von der «herrlichen Hauptstadt», von der «Freundschaft unserer Häuser», von dem «göttlichen Schutz unserer Waffen», von unserer «gerechten Sache», «unsere durch die Kriegstaten bewiesene Friedensliebe», passt dieser vermoderte Wortekram noch in unsere fortgeschrittene Zeit der 120-Kilometergeschütze der Giftgase und der Fliegerbomben? Sollte man diese Freundschaftstoaste nicht aus der Weltgeschichte streichen oder sie nicht zum mindesten der Veröffentlichung entziehen? Welcher von der Kriegserschütterung zermürbte Mensch vermag dieses Gefasel noch zu ertragen?