Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 5. November.

Seltsamer Artikel in der «Ethischen Kultur» (1. November 1915). Eine Verteidigung des Buches von Bernhardi. Menschlich sehr schön, auch für den Gegner Entschuldigung zu finden. Aber hier ist Entschuldigung Unterstützung. Bernhardis Buch ist keine Einzelerscheinung, sondern das Produkt einer Geistesrichtung, die in Deutschland vor dem Krieg stark vertreten war. Sie war nicht gross, aber machtvoll durch die Gesellschaftskreise, die sie pflegten und durch die fast an Wohlwollen grenzende Duldung, die sie von seiten der Regierungen erfuhr. Mag ihr Licht nur schwach gewesen sein, jene angeführten Gründe umgaben es mit Reflektoren, die es weit in die Welt hinaus glänzen liessen. Auch im Kern der Laterne eines Leuchtturms sitzt nur eine bescheidene Petroleumlampe, deren Licht jedoch auf viele Meilen ins Meer hinausgeworfen wird. So verhält es sich mit der alldeutschen Literatur, deren Bedeutung man so gern nach dem Mass ihrer eigenen Kraft abtun möchte, nicht darauf achtend, wie stark diese Kraft nach aussen hin projiziert wurde. Der Artikel in der E. K. geht von der Voraussetzung aus, dass Bernhardi recht gehabt hat, weil er schon vor fünf Jahren der Meinung war, «dass die Randmächte unsere Vernichtung bezweckten.» Diese Annahme halte ich für falsch. Auch sie fühlten sich bedroht, so wie wir. Das ist das Ergebnis des Schutzsystems der Rüstungen, die nur dadurch schützen, indem sie bedrohen. Es ist betrübend, in einem Blatt wie die E. K. eine Zustimmung für die Rechtfertigung des Präventivkrieges zu finden. Das ist die Not der grossen Zeit!

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Um die Anwesenheit des Fürsten Bülow in der Schweiz ist viel Friedenslärm entstanden, der jetzt energisch dementiert wird. Auch andere Friedensanregungen, die von Deutschland ausgegangen sein sollen, werden dementiert. Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» (4. November) meint, «wie es überhaupt verfrüht wäre, von Friedensbedingungenzu sprechen.» Verfrüht? Fünfzehn Monate nach Kriegsausbruch! Es ist gut, sich daran zu erinnern,dass die offizielle Weisheit immer davon sprach, dass ein Zukunftskrieg nur von kurzer Dauer sein werde. Das Wort «verfrüht» ist hier sehr unangebracht. In den grossen Reden, die vorgestern Asquith im englischen und Briand - im französischen Parlament gehalten haben, feierte der «Jusquauboutismus» Orgien. Danach müsse der Krieg noch Jahre dauern. Aber die Diplomatie treibt ihr Handwerk sehr nach den Regeln des Pokerspieles, dass man immer berechtigt ist, an einen Bluff zu glauben. Und deshalb glaube ich auch nicht, dass Fürst Bülow am Vierwaldstättersee bloss die Annehmlichkeiten des Novembernebels sucht. Mit den diplomatischen Ableugnungen wird man künftig zurückhaltender sein müssen, nachdem eine breite Öffentlichkeit aus der Veröffentlichung so zahlreicher diplomatischer Aktenstücke so tiefen Einblick in die Hexenküche erhalten hat. Wir haben jetzt Genaueres über die Verhandlungen gehört, die die Reichsregierung in den Februartagen 1912 mit Lord Haldane gepflogen hat. Es erinnern sich wohl aber nur wenige daran, dass man die Öffentlichkeit, die an jenen Besuch Hoffnungen und Kombinationen knüpfte, damit abspeiste, dass Haldane nur erschienen wäre, um - so glaube ich mich erinnern zu können - seinen Bruder zu besuchen. Ob Fürst Bülow in Luzern etwa auch nur seinen Bruder besucht?

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Aus Hamburg schreibt BI., er habe die Mitteilung erhalten, dass die Oktober-Nummer der «Blätter für zwischenstaatliche Organisation» dort beschlagnahmt worden, und dass die Einführung in das deutsche Gebiet während des Krieges verboten ist. Man verlangte ausserdem von der Hamburger Friedensgesellschaft, dafür zu sorgen, dass keine weitern Sendungen eintreffen. – Ob das ein Verbot für ganz Deutschland ist, wird sich erst zeigen. Es wäre schlimm. -