Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 23. Juli.

Über die hier unterm 20. Juli vermerkten Mitteilungen der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» bezüglich der im Jahre 1912 geführten Verhandlungen mit England bringt die «Arbeiterzeitung» vom 20. Juli einen bemerkenswerten Artikel, der sich im Tenor gegen die «Geheimdiplomatie» wendet. Sie wirft die Frage auf:

«Ob die Verständigungsverhandlungen, die, wie man jetzt erfährt, im Jahre 1912 zwischen England und Deutschland unternommen wurden, um das feindliche Misstrauen auf beiden Seiten zu beschwören, auch gescheitert wären, wenn die Entscheidung letzten Endes nicht bloss den Diplomaten anheimgestellt gewesen wäre? Ob die Verhandlungen abgebrochen hätten werden können, wenn auch die Völker mitsprechen hätten können?

Und zum Schlusse heisst es:
«Ganz gewiss, man kann sich deutlichere und innigere Neutralitätsverträge vorstellen; aber hätte nicht schon dieser Vertrag den Beziehungen unter den Mächten eine andre Wendung gegeben, hätte nicht schon er aus dem Verhältnis zwischen England und Deutschland das gegenseitige Misstrauen ausgeschieden, das Gift entfernt? Dies mögen nun Vermutungen sein, aber hätten diese Verhandlungen scheitern können, wenn die auf beiden Seiten unzweifelhaft vorhandenen Bestrebungen zu einem den Frieden verbürgenden Übereinkommen zu gelangen, ihnen hätten zu Hilfe kommen können? Kann man nicht vielmehr mit der grössten Berechtigung sagen, dass die Kraft jener Parteien und Tendenzen, die in dem innigen Zusammenschluss dieser zwei Völker und Reiche die stärkste Bürgschaft der Erhaltung des Friedens erkannten, Parteien und Strömungen, die wie in Deutschland so in England gegeben waren, wohl hingereicht hätte, um die diplomatischen Hindernisse zu überwinden und ein Schutzabkommen herbeizuführen, das den wohlerwogenen Interessen beider Teile entsprochen hätte? Immer wieder stösst der forschende Blick auf Tatsachen, die dartun, wie leicht der «notwendige» Krieg doch hatte vermieden werden können».

Die Geschichte des Versuchs einer Verständigung zwischen England und Deutschland wird nach dem Krieg einer eingehenden Erörterung unterzogen werden müssen.

Gegen die am 10. Juli hier notierte Eingabe verschiedener Wirtschaftverbände an den Reichskanzler, worin die Notwendigkeit von Annexionen betont wurde, hat der Bund «Neues Vaterland» soeben eine (von Quidde verfasste) Denkschrift veröffentlicht. Sie trägt den Titel: «Sollen wir annektieren?» und wurde dem Reichskanzler wie den Mitgliedern des Reichstags übermittelt. Im übrigen ist ihre Verbreitung verboten worden. Mir ist heute ein Abzug auf Umwegen zugekommen.

Diese Denkschrift wird ein wertvolles Dokument bleiben. Sie widerlegt in wundervoller Weise den Wahnwitz der Unterjochungsbestrebungen und die davon zu erwartenden Gefahren. Man wird sich einmal auf diese ernste Mahnung in ernster Zeit berufen können.