Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 29. Juni.

Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» bedauert die Friedenskundgebung der sozialdemokratischen Partei. Betrachtet sie als die deutsche Sache schädigend und erklärt, dass die «Regierung von selbst das Ihrige tun» werde, sobald der Fortgang der militärischen Ereignisse und die politische Lage Aussicht dazu bieten.

Das tut aber nichts. Die Erörterung über die Kriegsbeendigung ist im Gang. Sie wird nicht mehr zum Stillstand kommen.

Die heutige Post war überreichlich. Nach vierzehntägiger Unterbrechung des Postverkehrs mit Österreich kamen heute die Briefe und Zeitungen von dort auf einmal an. Briefe vom 6. Juni und später. Ein Brief aus Berlin, der über Wien gegangen war, vom 18. Mai (!), ein Eilbrief aus Wien vom 12. Juni. Was ist aus dem «Zeitalter des Verkehrs» geworden!

Die warmen Zustimmungen aus allen Schichten, die mir zuströmen, mehren sich, aber auch einzelne Zurückweisungen und Angriffe. Ein Pazifist, den ich wohl kenne, zerrt in der «Königsberger Hartungschen Zeitung» vom 24. Juni einige Sätze meines Kriegstagebuchs aus dem Zusammenhang und bezichtigt mich, einen «antideutschen Standpunkt» einzunehmen. Ein banaler Vorwurf, der eine scharfe Zurückweisung verdiente, wenn es sich lohnte. Zum Schluss erklärt der «Pazifist» es als seine Pflicht, offen auszusprechen, dass mein Kriegstagebuch «einen öffentlichen Skandal bedeutet». Ich füge der Friedensbewegung unermesslichen und dauernden Schaden zu, wenn — wenn mir nicht bald das Handwerk gelegt werde! Du ahnungsloser Engel Du!

Die Leser dieser «Blätter», die mich so oft mit Zustimmungen bedenken, die, abgedruckt, bereits einen lehrreichen Band füllen würden, wird dieses «pazifistische» Urteil in einem «liberalen» Blatt gewiss interessieren. Man wird über diesen «Gesinnungstüchtigen» später zu sprechen haben. Erfreulicher Weise strömen dem Pazifismus neue, überzeugte Kräfte zu, so dass die Abkehr jenes Abtrünnigen, der mich nach Salandra-Art überfällt, wenig Schaden stiftet.

Herzerfrischend ist die Tätigkeit und sind die Veröffentlichungen des Bundes «Neues Vaterland», in dem sich neue Kreise unsrer Bewegung anschliessen. Was dieser Bund unter den gegenwärtigen schweren Umständen leistet, lässt für später ganz Ausgezeichnetes erhoffen. Interessant sind die Darlegungen des Freiherrn von Tepper-Laski über die Aufgaben des Bundes in seinem im «Freien Wort» veröffentlichten Interview. Auf die Frage, ob er für sich und seine Gesinnungsgenossen in Deutschland nicht eine Isolierung fürchte, gibt v. Tepper-Laski folgende mutige Antwort: «Wenn Sie jeden Menschen, der nicht Kriegsmaterial liefert oder in den Redaktionen «patriotischer» Zeitungen sitzt oder diesen nicht intellektuell zum Opfer gefallen ist, unter vier Augen fragen, ob er den Weltkrieg rückgängig machen möchte, so können Sie die Verneiner wohl alle in einem Sanatorium unterbringen. Die grössten Kriegsschreier sitzen nämlich zu Hause und besonders unter den für dauernd militärdienstuntauglich befundenen Redakteuren gewisser Zeitungen».

Das ist mutig, denn solche Äusserung macht einen für das schmückende Beiwort «Deutschenfeind» geeignet. Aber dieses von den Chauvinisten verschwenderisch vergebene Wort wird bald zu einem Ehrentitel werden. Das deutsche Volk sieht immer deutlicher, wo seine Feinde sitzen, und wer jene sind, die seine wahren Freunde mit diesem Titel stigmatisieren wollen.

* * *

Berliner Blätter berichten folgendes:

«Als Kaiser Wilhelm bei seinem letzten Besuch an der Westfront an eine Stelle kam, wo nach heftigen Kämpfen viele brave Söhne des Vaterlands den Heldentod gefunden, kniete er erschüttert nieder und betete. Als er sich erhob, sagte er zu seiner Umgebung: ,Ich habe es nicht gewollt!'»

Dies ist menschlich möglich. Wohl jenen, die reinen Herzens das Wort des Kaisers wiederholen können!

Wir Pazifisten haben am ehesten das Recht dazu, zu sagen: Wir haben es nicht gewollt. Wir haben unsre ganze Kraft darein gesetzt, die Mittel zur Verhütung zu zeigen, die Auswege zu weisen. Nur sind wir nicht gehört worden.

* * *

Was bedeutet die Anwesenheit des Reichskanzlers und des Staatssekretärs von Jagow in Wien? — Man meint, der Abwehr einer neuen, vom Balkan drohenden Gefahr. Soll Österreich diesmal Konzessionen an Rumänien machen?

* * *