Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

25. August 1914.

Den Fortschritten im Westen Deutschlands steht heute ein offizieller Bericht vom Rückzug im Osten gegenüber. Es scheint eine Preisgabe Ostpreussens beabsichtigt zu sein, dessen weit vorgestreckte Lage dem Feinde die Möglichkeit bietet, die deutsche Armee von ihrem Zusammenhang mit dem Zentrum abzuschneiden. Um dies zu vermeiden ist der Rückzug notwendig. Umso notwendiger als Deutschland seine Hauptkraft nach dem Westen konzentriert hat und nur mit dem Fünftel seiner Macht im Osten steht. Dieses Manko auszugleichen, ist Österreich-Ungarn berufen.

Dieser von der deutschen Heeresleitung offen eingestandene Rückzug ist sicherlich kein Debakel, immerhin schmerzhaft. Das Vordringen des barbarischen Russentums kann leider als moralischer Faktor schädlich wirken. Der Krieg gegen vier Feinde zeigt sich hier in seiner ganzen Gefährlichkeit. Die Notwendigkeit, im Westen zu einem raschen Frieden zu kommen, drängt sich gebieterisch auf. Russland darf nicht vorschreiten, auch nicht vorübergehend.

Die deutsche Armee hat der Stadt Brüssel eine Kriegskontribution von 200 Millionen auferlegt. Eine schwere Last für diese Stadt, zumal die Kriegskontribution für Paris im Jahre 1870 nicht grösser war.

Serbien erhebt durch den spanischen Gesandten in Wien eine Beschwerde gegen angebliche Grausamkeiten der österreichisch-ungarischen Armee und droht mit Repressalien. Darauf erwidert die österreichisch-ungarische Regierung mit Anführung erschreckender Greueltaten, die sich die Serben zu Schulden kommen liessen. Das alte Spiel ! — Es gibt keinen humanen Krieg. Dieser besteht nur in der Phantasie derjenigen, die sich der Sisyphusarbeit hingeben, den Krieg mit unserer Kultur in Einklang bringen zu wollen. Die einzige Humanität besteht darin, den Krieg unter allen Umständen auszuschalten aus dem Leben der Völker. Wir haben mit grosser Verachtung auf die Balkanvölker herabgeblickt, weil sie ihren Krieg mit barbarischen Mitteln betrieben. Der europäische Krieg wird dem Balkankrieg an Greueltaten nicht nachstehen.

In Budapest wurde auf Grund einer Verfügung des Ministers des Innern die elektrische Strassenbeleuchtung eingestellt, um mit den Kohlen zu sparen. So fängt es also an. Ganz Mitteleuropa gleicht einer belagerten Stadt.

Gestern kamen die ersten Verwundeten in Wien an. Die Zeitungen berichten ausführlich darüber mit liebenswürdigen Schmockereien, als ob es sich um eine Operettenpremiere handelte. Ein schwacher Versuch, dem Ereignis seinen bitteren Ernst zu nehmen.

Die erste Nummer der «Zukunft» nach dem Krieg kommt in meine Hand. Schändlicher Volksverderber ! Einige Sätze aus seinem Gebrülle: «Meine Kraft ist mein Recht». — «So lange es irgend geht, sind wir anständige Kerle; können aber, wenn es sein muss, auch Schweinehunde werden». — «Wer im Recht ist? Wer die Macht hat: darum nur gehts noch». — Dann zitiert er Cecil Rhodes: «Dieser Krieg ist gerecht, denn er nützt meinem Volke und mehrt meines Landes Macht» fügt hinzu: «Hämmert in alle Herzen den Satz. Klebet ihn . . . an alle Mauern!» — Ja, sieht denn der Mann nicht, dass er das Vorgehen der koalierten Feinde des Reiches gutheisst?

Da ist Friedrich Naumann ein anderer! Nichts von gedankenlosem Patriotismus, und doch voll ernster starker Liebe zu Land und Volk. Ernst schon deshalb, weil er bei aller Zuversicht die Besorgnis nicht verhüllt. Aus seiner Kriegschronik, die jetzt wöchentlich in der «Hilfe» erscheint, (12. August) möchte ich eine Stelle hier festhalten:

«Es gibt zwar Leute, die den Krieg als solchen als eine Wohltat ansehen. Man kann das begreifen, denn der Anfang war von ungeahnter Wucht und Erhebung. In zahllosen Seelen ist nun erst Vaterland und Weltgeschichte aufgestiegen. Die Hingabe des Volkes, der Geist der Ausziehenden sind so vortrefflich, wie es nie jemand vorher gewusst hat. Und trotzdem ist und bleibt der Krieg eine Bedrohung der Kultur, eine Gefahr für Sieger und Besiegte. Das auszusprechen muss auch dem besten Patrioten mitten im notwendigen und aufgedrungenen Krieg erlaubt sein».

Jene Patrioten, die sich Pazifisten nennen, haben dies aber schon zu einer Zeit gesagt, wo es möglich gewesen wäre, notwendige Kriege zu hintertreiben. Dies bestätigt Naumann in einem Artikel einer anderen Nummer der «Hilfe» (6. August), wo er über die Notwendigkeit dieses Krieges schreibt: «Wer kann sagen, dass etwas kommen muss? Es sind schon sehr viele Kriege nicht eingetreten, von denen angenommen wurde, dass sie unvermeidlich seien». — Sehr richtig. Das habe ich aus den Memoiren Hohenlohes vor Jahren bereits nachgewiesen.2)


2 Sieh meinen Artikel über «Hohenlohes Denkwürdigkeiten» in der «Friedens-Warte» 1906, SS. 223 u. F.