Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. September.

«Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an» nach dieser gestrigen Rede Hertlings im Hauptausschuss- Das zeigt im Blendlicht die Lage dieser Regierung, dass sie keinen Mann findet, der durch die Kraft seiner Persönlichkeit Eindruck macht und Vertrauen zu erzwingen versteht. Was Hertling da sagte, das sind die Raisonnements eines Lesers der Generalanzeiger Presse. Das hätte noch Anrecht, auf einem Verbandstag der Drechslermeister oder auf einem Delegiertentag der Konsumvereine gehört zu werden, aber nicht vor dem Extrakt der Volksvertretung. Ein Salat der abgenütztesten Klischees. Sogar die Einkreisungspolitik Eduards VII. musste herhalten, und Belgien musste den Vorwurf des Neutralitätsbruchs über sich ergehen lassen, wie einst im Mai der Kriegszielphantasien der sieben Wirtschaftsverbände. Die französische Revanchelust und der panslavistische Expansionismus, der russische Militarismus, der schwache Zar, der Suchomlinowprozess, der alles bewiesen haben soll, wurden der Friedensliebe Wilhelms II. gegenübergestellt und der naive Satz in die Welt geblasen:

«Nicht der preußische Militarismus hat die Fackel an den Zündstoff gelegt, sondern während der deutsche Kaiser bis zum letzten Augenblick bemüht war, den Frieden aufrecht zu erhalten, hat die russische Militärpartei gegen den Willen des schwacher» Zaren die Mobilisierung durchgesetzt und damit den Krieg unvermeidbar gemacht.»

Und das wird einem mündigen, so schwer geprüften Volk, das nach Brot und Leben schreit, noch immer vorgesetzt. Man denkt gar nicht daran, das einer fragen könnte, was denn der russischen Mobilisierung vorherging, und warum sie denn, wenn sie nun tatsächlich schon herbeigeführt war, unter allen Umstanden auch den Krieg bedeuten musste. Aber solche Fragen würden das Konzept verderben.

Der Reichskanzler, der doch am Ruder des Staatsschiffs steht und Übersicht über alle Vorgänge und ihre tiefe Bedingtheit besitzen sollte, wundert sich — ja, erregt sich — über den Hab gegen Deutschland in der Welt draußen, und er verschmäht es nicht, die klassisch große Rede Clemenceaus, die auch den Nicht-Franzosen das Blut anfeuerte und das Herz höher schlagen ließ, als eine an «Roheil der Gesinnung alles bisher Geleistete» übertreffende Kundgebung zu kennzeichnen. Wahrhaftig, aus dieser Rede fühlte man das Weh der Zeit brausen, mehr als aus den nörgelnden Leitartikeln des Grafen Hertling.

Und nach all diesen Hoffnungslosigkeiten die Bereiterklärung zu Völkerbund, Schiedsgericht, Abrüstung. Auch dieses Bekenntnis kann keinen Eindruck machen. Wie wenig Ahnung Graf Hertling von diesen Dingen hat, beweist der zur Frage der Schiedsgerichte gesprochene

Satz:

«Aus dem sehr interessanten Material, das mir Vorgelegen hat, ergibt sich, das in der Vergangenheit Deutschland wiederholt die Anrufung eines Schiedsgerichts in Streitfragen angeregt hat.»

Also seit gestern ungefähr kennt der Reichskanzler dieses «sehr interessante Material», und schon heute will er auf Grund dieser Kenntnisse den Krieg damit beseitigen. Wer daran glauben soll! Wer nach dieser naiven Äußerung eines pazifistischen Laien hoffen kann, dass das System der Schiedsgerichtsbarkeit, «dass auch Deutschland wiederholt angerufen hat», die Kraft besäße, die neue Weltordnung zu schaffen, der ist ein Narr.

Diese Rede, deren einziges Verdienst darin liegt, dass sie die ernste Lage wiederholt unumwunden zugibt, ist die Rede eines alten Mannes, der sich in seinen festgewurzelten und bequemen Anschauungen nicht mehr stören lassen will. Er sieht die Dinge, nicht wie sie sind, er will sie nicht anders sehen. Es ist nicht die Rede des täglich notwendiger werdenden starken Mannes aus dein Volk, der die Kraft hat, Irrtümer zu bekennen, Lügen zu zerreißen und durch die ungeschminkte bittere Wahrheit den Weg ins Freie zu weisen.