Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. Mai.

Die offiziöse Wiener Presse sucht die jüngsten Vorwürfe Greys zu entkräften. Es geschieht dies in jener widerlichen schmockhaften Art, mit Beweissätzen, die von Gutgesinntheit triefen, aber von Logik nichts ahnen lassen. Diese Schmocke, die hier ihre Regierung zu verteidigen haben und dafür nicht nur mit fettem Honorar, sondern auch noch mit Titeln und Auszeichnungen gespeist werden, brauchen sich den Luxus von Logik nicht zu gestatten. Das Wort «Konferenz» bringt sie schon in Harnisch und die Zumutung, dass man sich auf eine Konferenz hätte einlassen sollen, um diesen Krieg zu vermeiden, scheint ihnen als ein unerhörtes Verbrechen. Das «Fremdenblatt» will dem Volk suggerieren, «dass es ein Selbstmord gewesen wäre, wenn sich die Monarchie den Beschlüssen der Konferenz unterworfen hätte ...» Beschlüssen, von denen der Schreiber noch gar nicht weiss, wie sie ausgefallen wären. Aber die Vernichtung von zwei Millionen Menschen, von 300 Milliarden Werten, die Infragestellung der Existenz des Landes erscheint dem, der solches schrieb, besser. Was soll man erst zu folgender Äusserung des «Pester Lloyd» sagen, der sich den Satz leistet: «Grey wird uns nicht zu überzeugen vermögen, dass er in den Sommertagen 1914 als aufrichtiger Friedensfreund gehandelt hat». Wer denn hat in jenen Friedenstagen in einer den Pester Lloyd überzeugenden Weise als Friedensfreund gehandelt? — Der Fabrikant und Lancierer des Ultimatums an Serbien etwa, derjenige Minister des Äussern, der sich in den kritischen Stunden der Befristung von niemandem sprechen liess, und der in eine Verlängerung der Ultimatumsfrist sich absolut nicht einlassen wollte. War der der Freund des Friedens?

Die Komödie, die da gespielt wird mit dem deutlichen Zweck, das Volk zu benebeln, ist zu durchsichtig, als dass es sich lohnte, den Schleier herunter zu reissen. Er wird eines Tages von selbst stinkend verfaulen.

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Ein neuer Kriegskredit von zehn Milliarden wird in diesen Tagen vom deutschen Reichstag gefordert werden. Damit sind die sichtbaren und direkten Kriegskosten des Reiches auf fünfzig Milliarden angewachsen. — Als die ersten fünf Milliarden verlangt wurden, schrieb Jemand in Naumanns «Hilfe»: «Das Wagnis ist ungeheuer, aber da es uns aufgezwungen wird, so bleibt uns nichts anderes übrig: wir verdoppeln die Reichsschuld, wir borgen fünf Milliarden». — Fünf Milliarden! Heute ist die Reichsschuld von 1914 verzehnfacht! Damals bei den ersten fünf Milliarden schrieb die «Hilfe»: «Das Volksvermögen steht auf dem Spiel: verlieren wir, so sind wir arm. Dann ist die Periode des deutschen Wirtschaftsaufschwunges vorbei.» Wie mag der Schreiber jenes Schreckensrufes heute denken, angesichts der 50 Milliarden, deren Ersatz durch eine Kriegsentschädigung niemand mehr zu erhoffen wagt.

Angesichts solcher Tatsachen noch immer die Meinung vertreten zu hören, dass es besser war in den Krieg statt auf die von Grey vorgeschlagene Konferenz zu gehen, lässt einen sich in ein Tollhaus versetzt vorkommen. Nein! Nein! Und tausendfach Nein! Die Konferenz wäre der einzige vernünftige Ausweg gewesen und nun die Vereitelung dieser Konferenz war Wahnsinn oder Verbrechen.

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Und der Friedensschluss? Es wird viel darüber geredet. Das ist nur zu natürlich; bei der quälenden Sehnsucht danach horchen Millionen auf, wenn nur das Wort fällt. Und die Schwerkraft dieser Sehnsucht kann schliesslich doch zu dem gewünschten Ziel führen. Einige Bewegungen in der Diplomatie fallen auf. Wilsons Freund, der Oberst House, reist abermals noch Europa. Der Sekretär der amerikanischen Botschaft in Berlin hat sich in besonderer Mission nach Washington begeben. Viscount Haldane soll ebenfalls dahin gereist sein. Der Reichskanzler fährt nach München, Stuttgart, Karlsruhe. Soll dieses Chassez-Croisez nichts zu bedeuten haben?

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